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XV. Zwischenfälle

Christine stand am Fenster und blickte Jules Bernard überrascht an, als dieser das kleine Hotelzimmer betrat. Mit einem fragenden Blick schaute sie dann zu Minette, die das kleine Frühstück abstellte.

"Guten Morgen, Mademoiselle.", begrüßte Jules die junge Dame und konnte die Freude in seiner Stimme nicht verbergen. "Ich bin Jules Bernard, wir sind uns schon einmal in der Rue Scribe begegnet.", stellte er sich dann noch vor.

"Guten Morgen, Monisuer. Ja, ich erinnere mich."

"Erik sucht Sie.", platzte Jules dann heraus, als Christine ihm einen Platz anbot. Christine war noch immer sprachlos, all das wovon sie in den letzten Wochen geträumt hatte, würde wahr werden und doch war sie wie gelähmt. "Er wollte sie gestern nach der Vorführung besuchen, doch sie waren leider schon fort."

"Ich konnte nicht bleiben.", brachte Christine schließlich hervor und ihre Stimme verriet, wie gerne sie Erik eigentlich gesehen hätte.

"Erik fragt sich natürlich was geschehen ist, aber noch mehr freut er sich, Sie wieder zu sehen, Mademoiselle.", meinte Jules, während Christine ihr Frühstück zu sich nahm. "Er hat eine Menge durchgemacht, müssen sie wissen."

Christine brannten so viele Fragen auf der Zunge. "Wie ist es ihm ergangen? Und vor allem wie geht es ihm?"

"Nun, er ist sehr erfolgreich als Architekt, es gibt niemanden in der New Yorker Gesellschaft, der sich sein Haus nicht gerne von Erik entwerfen lässt. Im Augenblick wird noch sein eigenes Anwesen, etwas außerhalb der Stadt fertiggestellt. Finanziell gesehen geht es ihm sehr gut und seit gestern brauche ich auch keine Angst mehr um ihn zu haben."

Bei Jules letztem Satz erstarrte Christine und ihr Blick war panisch auf Jules gerichtet. Sie fragte sich weshalb Jules Bernard keine Angst mehr um Erik zu haben brauchte? Was sollte das bedeuten? "Wie meinen Sie das Monsieur Bernard?"

Jules schaute verlegen auf den Boden, er wollte diese Frage nicht beantworten, doch Christine hakte beharrlich nach, bis er schließlich doch alles erzählte. Er berichtete ihr, von dem Selbstmordversuch, den Erik hinter sich hatte, weil er die Trennung von ihr nicht länger hatte ertragen können. Mit jedem seiner Worte erbleichte Christine mehr. Was hatte sie ihm nur angetan, wie konnte sie all die Schmerzen jemals wieder gut machen. Tränen bildeten sich in ihren Augen und sie fragte sich, wie sie ihm jemals in die Augen blicken sollte.

"Mademoiselle, kommen Sie mit, ich bringe Sie zu ihm, er wird sich sehr freuen, Sie endlich wieder zu sehen.", schlug Jules schließlich vor.

"Ich will ja, aber ich weiß nicht, ob ich..."

"Mademoiselle, ich darf nicht ohne Sie zurückkommen und außerdem wartet Erik selber im Theater auf Sie."

Christine blickte auf, Erik wartete auf sie, das waren so wundervolle Worte und doch hatte sie den Patzer am gestrigen Abend noch immer nicht verwunden.

"Sie tragen den Ring, den ich in Eriks Auftrag für sie besorgt habe. Ich schließe daraus, dass Sie ihn lieben und gern zu ihm zurückkehren wollen, also was hindert Sie daran, zu ihm zu gehen?"

Sie atmete tief durch, als sie wieder zum Fenster hinüberging und in die Straßen hinabblickte. Den ganzen Weg nach New York hatte sie nur zu Erik gewollt und nun haderte sie, nur wegen eines Patzers, den nur sie und Erik bemerkt haben konnten. Was hielt sie zurück? Sie wusste es nicht. Erst ein leises Knurren ließ Christine aus ihren Gedanken erwachen. Ayesha saß auf dem Fensterbrett und erinnerte sie unweigerlich an das Versprechen, das Christine in Dover gegeben hatte.

"Du hast Recht Ayesha, ich habe es geschworen. Ich werde gehen."

Sie wandte sich um und ging zur Kommode, um ihren Hut, ihre Handschuhe und ihr Cape zu holen.

"Nun, Monsieur Bernard, führen Sie mich zu Erik, bitte.", bat sie, während sie sich ihr Cape anlegte.

* * *

Endlich hatte das Schiff angelegt, in den frühen Morgenstunden, erreichte Raoul endlich New York und hatte es äußerst eilig gehabt diese lästigen Zollformalitäten hinter sich zu bringen. Er war Aristokrat und wäre am liebsten einfach durch gegangen, doch hier in diesem Land waren in dieser Hinsicht alle gleich, jeder hatte diese Kontrollen über sich ergehen lassen müssen.

Der Schalterbeamte kontrollierte sorgfältig die Papiere des jungen Mannes und musterte ihn mehrmals, während einer seine Kollegen von dem gestrigen Triumph einer unbekannten Sängerin berichteten.

"Und wie sieht sie aus?", fragte der jüngere der beiden Schalterbeamten.

"Das konnte ich nicht sehen, ich hatte ja nur einen Stehplatz auf dem letzten Rang. Und außerdem stand ich ganz am Rand, da  konnte ich sie nicht immer sehr gut sehen. Aber dafür hatte ich nen tollen Blick in den Saal und der war gestern recht merkwürdig.", meinte der alte Schalterbeamte und machte alle Umstehenden neugierig. Seine Kollegen hörten ihm gerne zu, wenn er ihnen von seinen gelegentlichen Theaterbesuchen erzählte, die er sich nur leisten konnte, weil seine Schwester dort Logenschließerin war und ihm ihre quartalsmäßigen Eintrittskarten überließ, die sie als Bonus für ihre treuen Dienste erhielt.

"Wieso?", fragten mehrere nach, die seinen Ausführungen interessiert gefolgt waren.

"Nun, die beste Loge, war zugezogen."

"Wie?"

"Nun, die Vorhänge waren zugezogen und man munkelte, dass dieser geheimnisvolle Architekt da war."

"Du meinst der, der allen die extravagantesten Häuser hinsetzt und den man noch nie gesehen hat?"

"Genau der."

Raoul wurde hellhörig. Nadir hatte ihm mal was von Eriks architektonischen Fähigkeiten erzählt und so zählte er eins und eins zusammen und konnte sich denken, wer dieser begehrte Architekt war.

"Entschuldigen Sie meine Herren, wenn ich mich in ihre Unterhaltung mische, aber Sie wissen nicht zufällig, wie man diesem Gentleman einen Auftrag zukommen lässt?", erkundigte sich Raoul.

"Mein Bruder ist Steinmetz und arbeitet für diesen Mann, ich kann Ihnen sogar sagen, wo Sie sein Haus finden.", prahlte ein dicklicher Zollbeamte und wischte sich die Reste seiner Blutwurstsuppe aus dem Gesicht.

"Ähm, danke, das wäre zu liebenswürdig von Ihnen.", nahm der Vicomte diese einmalige Gelegenheit war und steckte dem Mann als Dankeschön eine 20 Pfund-Note zu.

Der Mann reichte Raoul einen verschmierten dreckigen Zettel auf dem eine Anschrift etwas außerhalb der Stadt stand.

* * *

Erik war nach drei Stunden des Wartens zu seinem Anwesen zurückgefahren, um die Bauarbeiten zu überwachen und noch einige Entwürfe zu verbessern. Ablenkung tat ihm wesentlich besser, als das ständige auf- und abgehen im Theater. Er verstand Christine einfach nicht, sie war hierher gekommen, also wollte sie zu ihm und dennoch war sie geflohen, diese Frage ließ ihn einfach nicht in Ruhe. Sollte sie ihn etwa wegen des unbedeutenden Patzer fürchten?

Jules fuhr mit Christine zusammen zum Theater, um zu erfahren, dass sein Herr bereits zurückgefahren sei und ihn zu Hause erwarte. Er merkte, wie nervös Christine war, wie sie immer wieder den Ring an ihrer Hand umdrehte und ihn immer wieder abnahm und wieder ansteckte.

"Mademoiselle, es besteht kein Grund nervös zu sein.", versuchte er die junge Frau zu beruhigen.

"Monsieur Bernard, ich bin aber nervös."

"Wie hat der Vicomte es eigentlich aufgenommen, als sie ihm mitteilten, das sie nun doch nach New York wollten."

"Ich weiß es nicht. Ich bin heimlich gegangen ohne ihm etwas zu sagen."

Nun war es Jules, der überrascht war, das hieß, das es durchaus wahrscheinlich war, das der Vicomte hier auftauchen würde, um sie zurückzufordern. Er würde zumindest so handeln, wenn er sie wirklich liebte. Aber vielleicht würde er auch einfach nach Paris zurückgehen und ein standesgemäßes Leben führen. Das hoffte Jules zumindest.

"Ich habe viel Zeit gebraucht um mir über alles klar zu werden, und allein Eriks Stimme hat mich am Leben gehalten, als es mir schlecht ging. Für mich gibt es nur noch ein Leben, ein Leben mit Erik.", erklärte Christine, als sie in eine herrliche Allee einfuhren, an deren Ende das Ziel ihrer Reise war. Leider versperrte eine Equipage den Weg und so waren sie gezwungen zu warten, doch Christine wollte nicht warten. Nachdem Jules ihr gesagt hatte, das Eriks Anwesen am Ende der Straße lag, stieg sie aus und ging zu Fuß weiter.

Christine hatte die Einfahrt beinah erreicht, als sich plötzlich ein Mann vor ihr aufbaute und sie wütend anfunkelte. Sie wollte ohne ein Wort an ihm vorbei, doch der Mann versperrte ihr den Weg.

Erik indes stand auf der hufeisenförmig angelegten Treppe und wies einen der Gärtner an, den georderten Rosenbusch in der Mitte zu pflanzen. Die Außenarbeiten waren, bis auf den Garten, abgeschlossen, die Innenarbeiten bestanden nur noch aus Kleinigkeiten und der Möblierung. Erik war stolz auf sein Haus, zum ersten Mal hatte er etwas errichtet und es auch für sich behalten. Nie hatte er gewusst, warum er unbedingt ein großes Haus für sich hatte haben wollen, nun wusste er es. Er schloss die Augen, atmete die herrliche Luft ein, die bereits geschwängert war vom intensiven Duft des Rosengartens. Hier war es ruhig, nicht so hektisch wie in der Stadt und hier wurde er von niemanden gestört, sein Anwesen war groß genug, dass die Grenzen zu seinen Nachbarn 10 Gehminuten von seiner Einfahrt entfernt waren. Überall standen hohe Bäume und ein großer Teil des Gartens, war verwildert, sogar ein kleiner natürlicher See gehörte zu seinem Besitz. Der Gärtner hatte vorgeschlagen alles schön im französischen oder englischen Stil anzulegen, doch Erik hatte dies nicht gewünscht. Das letzte was er hier hatte haben wollen, war ein künstlicher Park.

Jäh, wurde die Ruhe gestört, als er von der Einfahrt lautes Geschrei vernahm. Verärgert ließ er den Gärtner stehen, ging in die Eingangshalle, wo sein Degen lag, legte ihn an und eilte zur Einfahrt.

"Was glaubst du eigentlich, was das hier soll.", schrie er sie erneut an.

"Lass mich.", entgegnete sie ihm nur immer wieder, denn sie wollte sich nicht auf Diskussionen mit Raoul einlassen.

"Ich habe mein Leben für dich riskiert und dann lässt du mich drei Tage vor unserer Hochzeit wegen, wegen, wegen dieses Ungeheuers sitzen.", spie er ihr verächtlich entgegen.

"Es tut mir leid, Raoul, aber es war ein Fehler, alles war ein Fehler, ich hätte dir von Anfang an keine Hoffnungen machen dürfen, aber... ."

"Aber was?", wurde sie von Raoul unterbrochen. "Aber du hast dir in letzter Minute überlegt, das du lieber bei ihm wärst.", entgegnete er ihr und betonte das ihm mit Abscheu und Ekel.

"Raoul, ich hätte dir... ."

"Du hättest mir unmöglich sagen können, das du lieber nach New York willst. Nun du hättest ehrlich zu mir sein können."

"Ach und was wäre dann geschehen, hättest du mich gehen lassen? Ich bitte dich, du  hättest mich doch nie zu ihm gelassen, du wolltest mir ja sogar Ayesha wegnehmen, weil Eriks Siamkatze auch so heißt.", brachte Christine hervor und trotzte Raoul zum ersten Mal. Sie war endlich erwachsen geworden und hatte für sich entschieden, ohne das sich jemand einmischte. Raoul hingegen platzte der Kragen. Was nahm sie sich da nur heraus, sie war eine kleine arme Sängerin, mit der er als Kind im Sommer gespielt hatte und in die er sich sogar verliebt hatte. Es wäre eine Ehre für sie gewesen, Vicomtesse zu werden und dann hatte sie einfach alles hingeworfen und für was, für ein Leben bei diesem Monster. Es reichte ihm, er holte aus und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige.

"Dafür das du mich lächerlich gemacht hast.", meinte er verächtlich, während Christine erschrocken nach hinten taumelte. Raoul ging wieder einen Schritt auf sie zu, doch Christine hielt schützend ihre Hände vor ihr Gesicht und da erblickte Raoul den fremden Ring. Den Ring, den sie gewiss von dem Ungeheuer bekommen hatte. Seine Wut wurde noch rasender und er schlug sie erneut und diesmal fiel sie mit dem Rücken auf die Straße.

"Nicht Erik ist das Monster. DU bist es, denn kein Mann von Ehre würde eine Frau schlagen.", brachte sie mit einer erstaunlichen Ruhe hervor, während sie auf dem Boden lag und ihn verächtlich anschaute.

Raoul hingegen kochte vor Wut, gerade wollte er zum dritten Schlag ausholen, als sein Arm plötzlich von etwas unbeschreiblich dünnem festgehalten wurde. Er blickte sich erschrocken um und bemerkte, erst jetzt die Zuschauer, die auf den Gehsteigen standen und diese Szene beobachteten. Raoul schaute zu seinem Arm und entdeckte ein feines Lasso und als er dessen Ende suchte, fand er nur Erik, der ihn mit einem mörderischen Blick anschaute. Raoul ließ seine Hand fallen, befreite sich von dem Lasso, zerrte an seinem Finger und warf ihr schließlich ihren goldenen Verlobungsring vor die Füße.

"Ich will die Hure eines Monsters nicht.", sagte er kalt und ging zu seiner Kutsche, die ihn augenblicklich zum Hafen fuhr, wo das Schiff, das er angemietet hatte auf ihn und Christine warten sollte.

Erik hatte ihre Stimme schon von weitem erkannt und hatte mit entsetzen gesehen, wie Raoul seinen Engel geschlagen hatte. So schnell seine Füße ihn hatten tragen können, war er auf Christine zu geeilt, die benommen auf der Straße lag und versuchte wieder aufzustehen. Er kniete zu ihr nieder und legte beschützend seine Arme um Christine.

"Du bist in Sicherheit, mein Engel, niemand wird dir jemals wieder etwas antun.", flüsterte er und war unendlich glücklich sie wieder in seinen Armen halten zu dürfen.

"Verzeih mir, bitte. Verzeih mir.", flehte sie mit leiser Stimme, als Erik sie hochhob und in sein Haus trug. Er brachte sie in den Salon, wo Ayesha auf einem roten Samtkissen in der Sonne lag und neugierig aufblickte, als Erik mit Christine auf dem Arm den Raum betrat.

"Es gibt nichts zu verzeihen, Christine. Das einzige was jetzt zählt, ist das du hier bist.", entgegnete er ihr, während er versuchte mit einem kühlen Tuch Christines blutende Nase zu stillen. "Du solltest etwas schlafen und dann sieht die Welt schon ganz anders aus."

Christine konnte nur noch nicken und sank in einen traumlosen Schlaf. Erik ging derweil zu Jules, der in der Tür stand und immer noch fassungslos war, über die Szene die der Vicomte der jungen Frau gemacht hatte.

"Du wirst ihre Habseligkeiten herbringen, eines der Gästezimmer ist bereits fertig, dort kann sie dann solange wohnen.", meinte Erik und schaute noch einmal besorgt zu Christine hinüber.

"Da ist ein junges Mädchen bei ihr gewesen.", warf Jules ein.

"Dann bring sie mit und begleiche die Rechnung.", sagte Erik und reichte ihm ein großes Bündel mit Geldscheinen und entließ Jules.

"Wie du willst Erik.", meinte Jules und ließ Erik wieder allein. Der ging in den nahen Musiksalon und begann leise eine der sanften Melodien seines Don Juan zu spielen.

Er spielte sein Glück heraus und als er seinen Blick durch den Raum schweifen ließ, blieb er auf dem Kaminsims haften, wo auf einem kleinen Kästchen eine kleine Ampulle mit einer klaren Flüssigkeit stand. Erik atmete tief durch, unterbrach sein Spiel und erhob sich. Die Ampulle betrachtend, blickte er wieder in den Salon hinüber, wo Christine schlief und dann fasste er einen Entschluss, den er schon längst hätte fällen sollen. Er warf die Ampulle in das Feuer und schwor sich nie wieder eine Droge anzurühren, es sei denn, diese Droge hieße Christine Daaé.



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