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V. Gefühle


A/N: Am Tag nach Nadirs Besuch beim Vicomte de Chagny.

Er hatte gestern noch zu Christine gehen wollen, um mit ihr zu reden, da er sie den ganzen Tag nicht gesehen hatte, doch sie hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Und heute hatte er sich extra frei genommen, um zu Hause zu sein, wenn sie aufwachen würde. Vor einer Stunde hatte Raoul dann gehört, das aus Christines Zimmer Geräusche kamen, sie musste also auf sein, doch sie kam nicht nach unten. Raoul entschloss sich daher zu ihr zu gehen, er klopfte vorsichtig an ihrer Tür.

"Christine, bitte mache mir auf.", rief er, sie musste wach sein, doch sie schloss einfach nicht auf.

Christine saß auf der Chaiselonge und hielt ihr Kätzchen im Arm und hing einfach nur ihren Gedanken nach, ohne das Klopfen oder gar Raouls Bitte zu hören.

Er hatte versprochen, sie in Frieden zu lassen, doch wieso war er hierher gekommen, er hätte doch auch einfach einen Brief schreiben können und ihn unter der Haustür durchschieben können, doch er war in ihr Zimmer eingedrungen. Wieso verhielt er sich so, wieso konnte er ihr einfach nicht sagen, was er fühlte, warum musste sie es von anderen erfahren. Aber hatte sie es wirklich erst von Nadir gehört, nein, er hatte ihr schon so oft Zeichen gegeben, dass er sie liebte, doch sie hatte sie nicht sehen wollen. Sie hatte sie nicht sehen wollen, weil sie sich mit ihren eigenen Gefühlen nicht auseinander setzen konnte und auch nicht wollte. Sie hatte Angst davor, was sie für ihn empfinden könnte, also hatte sie sich wie ein naives Kind verhalten.

Raoul klopfte nun schon seit fast einer halben Stunde an ihrer Tür, doch Christine öffnete nicht, also gab er auf und würde es später noch einmal versuchen. Er wusste, dass sie einen tiefen Schlaf hatte und sie so schnell nichts aufwecken konnte, vielleicht schlief sie ja doch noch. Als er wieder nach unten ging, läutete es an der Tür, sein Bruder Philippe kam ihn besuchen, um mit ihm zu reden.

"Philippe, was verschafft mir die Ehre.", begrüßte er seinen Bruder etwas förmlich.

"Raoul, bitte, wir sind doch Brüder. Ich wollte dich sehen und auch mit dir reden.", meinte er und betrachtete seinen kleinen Bruder eindringlich. Er hatte sich sehr verändert, er wirkte abgespannt und irgendwie auch gealtert.

"Wie geht es Mademoiselle Daaé?"

"Christine geht es gut. Aber du bist doch sicher nicht hierher gekommen, um mit mir über Christine zu reden."

"Nein. Ich habe gehört, ihr beide werdet nach England gehen."

"Ja, wir werden in vier Wochen von Cherbourg nach England fahren und dann weiter nach London, wo ich in der Nähe ein kleines Anwesen gekauft habe. Ich werde auch für sie sorgen können, da ich eine Anstellung in der Handelsgesellschaft eines Freundes gefunden habe. Du siehst, ich werde auf die Familie nicht angewiesen sein.", meinte er kalt und auch ein wenig stolz. Immer hatte er alles bekommen was er wollte, ohne dafür wirklich etwas tun zu müssen, sein Name allein hatte ihm immer alle Türen geöffnet, doch diesmal hatte er sich wirklich bemühen müssen und daher war er stolz auf sich, endlich aus dem Schatten seiner aristokratischen Abstammung getreten zu sein.

"Raoul bitte, ich bin zu alt, um mit dir über deine Liebe zu streiten. Du kennst sie seit deiner Kindheit, ich will nicht, dass wir in Streit auseinander gehen. Wir sind eine Familie, egal wen du heiratest.", sagte er beschwichtigend, er hatte in den letzten Tagen genügend Zeit gehabt, um über die etwas verfahrene Situation seiner Familie nachzudenken und hatte sich vorgenommen, Frieden zu schließen.

"Du gibst uns also deinen Segen?", fragte Raoul etwas überrascht nach, vor einer Woche hatte sich das alles noch anders angehört, da hatte er darüber nachdenken sollen, was er seiner Familie schuldig war und ob er diese Entscheidung vor seiner Familie und seinen Ahnen rechtfertigen könne und nun dies.

"Wo ist eigentlich deine Verlobte? Ich hatte gehofft, sie einmal persönlich kennen zu lernen und sie in der Familie willkommen zu heißen."

"Sie schläft noch.", entschuldigte Raoul Christine, und nahm sich vor, sobald Philippe gegangen war, zu ihr zu gehen und die Tür einzutreten, sollte sie nicht öffnen.

Christine ging in ihrem Zimmer auf und ab, ebenso unruhig, wie sie umherging, war sie auch innerlich. Ihre Gedanken liefen von einem zum anderen, sie wanderten zu ihrem Vater, zu Raoul, wieder zu ihrem Vater, zu ihrem Engel, wieder zu Raoul, zum Phantom, und wieder zu Raoul und dann war Erik nicht ihr Engel, nicht ihr Lehrer, nicht das Phantom, sondern einfach nur Erik, der Mann der sie liebte. Sie setzte sich an die Kommode und hielt wieder den Brief in ihren Händen, den sie gestern Abend von Erik erhalten hatte und las ihn zum wiederholten Male durch.

Stunden vergingen, ohne dass Christine etwas bemerkte, Minette hatte vorhin, ein Tablett vor ihre Tür gestellt, auf dem ein Frühstück für sie stand und auch etwas Milch für die Katze. Sie hatte alles zu sich hereingeholt, als sie sicher sein konnte, dass niemand in der Nähe war. Glücklicherweise hatte Raoul Besuch, so dass er nicht mitbekam, dass sie bereits wach war, sobald er wieder alleine war, würde er bestimmt zu ihr kommen, und eine Erklärung fordern, wieso sie sich einschließe. Und so kam es auch, kaum hatte sie ihr Kätzchen mit dem Lachs gefüttert, der für sie heraufgetragen worden war, und da Christine vergessen hatte, wieder abzuschließen, trat er ohne anzuklopfen unvermittelt ein.

"Oh, verzeih.", sagte er und drehte sich etwas zur Seite. Christine war so in Gedanken gewesen, dass sie sich nicht einmal angekleidet hatte, sie saß immer noch nur in Wäsche und Morgenrock gekleidet auf der Chaiselonge und fütterte Ayesha. Hastig eilte sie nach nebenan und zog sich ein einfaches Hauskleid über.
Komisch, wenn Erik mich nur so gekleidet gesehen hatte, war mir das nie unangenehm gewesen, ging es ihr durch den Kopf, als sie die Knöpfe verschloss und wieder zu Raoul ging.

"Guten Morgen, Raoul."

"Guten Morgen, Liebes. Wieso hast du dich denn gestern Abend eingeschlossen?", fragte er ohne Rücksicht auf ihren seelischen Zustand.

"Entschuldige, eine Angewohnheit. Bei Erik habe ich mein Zimmer auch immer verschlossen, wenn ich schlafen ging.", log sie, wohlwissend, dass sie nur dann abgeschlossen hatte, wenn er es ihr ausdrücklich gesagt hatte. Sie reichte ihm eine Tasse Tee und schaute ihn mit ihren unschuldigen Augen an.

"Verstehe, nun ja, hier musst du das nicht tun, hier wird dir nichts geschehen.", meinte er und setzte sich in den Sessel, während er sich im Zimmer umblickte. "Du siehst noch immer müde aus.", bemerkte Raoul. Und in der Tat Christine fühlte sich auch nicht sehr gut, was nicht an den Geschehnissen von vor mittlerweile über einer Woche lag, sondern einfach daran, dass sie an Erik denken musste und wie einsam er jetzt wohl sein musste. Aber das konnte sie Raoul unmöglich sagen, denn er würde es nicht verstehen und ihr vielleicht verbieten in drei Wochen zu ihm zu gehen und die versprochene Einladung zu überbringen.

"Vielleicht würde dir etwas frische Luft gut tun.", meinte er und erhob sich. "Was hältst du von einem Spaziergang im Park?", dabei griff er in ihren Schrank und holte ihren Mantel raus, legte ihn ihr um und zog sie, ohne auf eine Antwort zu warten mit sich.

Sie fuhren zum Bois de Boulogne, wo sie am Ufer des Sees spazieren gingen und die Kinder beobachteten. Raoul konnte sich schon vorstellen, wie sie durch den Hyde Park gehen würden und ihr Sohn herumtollen würde. Er war froh, sie endlich mal ins Sonnenlicht bekommen zu haben, das würde sie auf andere Gedanken bringen, da war er sich ziemlich sicher. Doch es brachte sie nicht unbedingt auf andere Gedanken. Christine war mit Erik auch einmal hier gewesen, damals war es jedoch schon dunkel gewesen, aber sie erinnerte sich noch gut, den gleichen Weg waren sie damals auch gegangen.


"Mit dir ist selbst die Dunkelheit eines verlassenen Parks wunderschön."



Dieser Satz schoss ihr plötzlich durch den Kopf und sie musste stehen bleiben, denn sie bekam keine Luft mehr. Alles um sie schien sie einzuengen, und mit entsetzen musste sie feststellen, dass es nicht die Umgebung war, sondern sie selbst. Sie selbst engte sich ein, indem sie sich ihr Leben einfach gemacht hatte und Erik und Raoul die Entscheidung über ihr Leben überlassen hatte. Diese Gewissheit, ihr Leben aus den Händen gegeben zu haben, trieb sie in die Enge, aus der sie eigentlich hatte ausbrechen wollen. Doch wie sollte sie nun aus diesem Leben ausbrechen, einem Leben, dass sich Raoul wünschte und in das sie Erik getrieben hatte, indem er sie frei gegeben hatte. Wie sollte sie sich befreien?

"Christine? Ist alles in Ordnung?", fragte Raoul besorgt nach, als er bemerkte, dass sie stehen geblieben war und um Luft rang. Sie hob nur beschwichtigend die Hand, aber Raoul sah, dass sie dringend nach Hause musste und diesmal würde er einen Arzt zu Rate ziehen, egal was er ihm erklären oder berichten musste. Er stütze sie und brachte sie zur Kutsche zurück und wies seinen Kutscher an, so schnell wie möglich nach Hause zu fahren.

Zwei Stunden später, kam der Arzt zu ihm in den Salon. Schweiß stand ihm auf der Stirn, den er sich nervös abtupfte, als er auf Raoul zukam. Er wusste nicht, wie er dem jungen Mann erklären sollte, dass er nichts hatte finden können, woran die junge Frau litt und dass ihr Zustand wahrscheinlich eine psychische Ursache hatte.

"Monsieur, ich weiß nicht, wie ich es ihnen erklären soll."

"Nun, versuchen sie es egal wie. Was fehlt meiner Verlobten?"

"Ich weiß es nicht. Ich konnte nichts finden, physisch ist sie vollkommen gesund. Das einzige was ich daher vermuten kann ist, dass Mademoiselle psychische Probleme hat, die ihre körperlichen Leiden auslösen. Es ist nicht ungewöhnlich, wenn junge Frauen kurz vor ihrer Hochzeit nervös werden und sich mit Problemen belasten, die nicht existieren.", versuchte Dr. Abitof Raoul zu beruhigen, der äußerst besorgt den Worten des Arztes folgte.

"Und wenn es hier Dinge gibt, die sie seelisch belasten? Was würden sie dann empfehlen?", fragte er besorgt nach.

"Einen Ortswechsel. Am besten ein anderes Land, dann kann sie mit ihrem alten Leben besser brechen und sich auf ein neues vorbereiten, dann verschwinden derlei Probleme rasch wieder. Aber wenn ich ihnen raten dürfte, ihre Hochzeit etwas zu verschieben, Mademoiselle scheint mir doch sehr geschwächt zu sein und ich fürchte die Anstrengungen einer Hochzeit ist sie in den nächsten, Wochen, vielleicht auch Monaten nicht gewachsen.", riet der Arzt ihm eindringlich.

"Steht es denn so schlimm um sie?", fragte er nach, eine Verschiebung kam ihm nicht sehr gelegen, denn er wollte eigentlich Christine, als seine Ehefrau in England vorstellen und nicht erst dort heiraten.

"Ich rate dringend zu einem späteren Termin, ansonsten könnten sich die psychischen Symptome negativ auf ihren Körper auswirken und dann kämen vielleicht noch ganz andere Probleme auf die junge Frau zu, als spontane Atemprobleme, und die könnten dann noch viel mehr belasten."

"Wie meinen sie das?", Raoul verstand den Arzt nicht, was für andere Probleme könnte sie denn dann bekommen.

"Nun, sie könnte vielleicht nicht empfangen. Viele meiner Kollegen, darunter hoch angesehene Persönlichkeiten, gehen davon aus, dass Frauen, die nicht in der Lage sind zu empfangen, seelische Probleme haben und daher keine Kinder bekommen können, bis das Problem gelöst ist."

"Ich verstehe, dann werden wir wohl oder übel, die Hochzeit verschieben müssen.", meinte er und begleitete den Arzt nach draußen.

Raoul strich sich in einer verzweifelten Geste durchs Haar, worauf hatte er sich da bloß eingelassen, er hätte schon bei ihrem Gespräch auf dem Dach der Oper bemerken müssen, dass sie seelisch nicht mehr ganz normal war. Aber nun gab es kein zurück mehr, zumindest nicht jetzt, vielleicht würde sich das Problem, ja auch mit ihrem Umzug nach England, in Luft auflösen und dann würde alles so sein, wie es sein sollte.

Christine hatte das ratlose Gesicht des Arztes gesehen, als er mit seiner Untersuchung fertig gewesen war. Er wusste nicht, was er davon hatte halten sollen, aber sie wusste was es war, es war ihre innere Zerrissenheit, die ihr die Luft weggeschnürt hatte. Und dafür gab es nur eine Lösung, sie musste sich endlich ihren Gedanken und Gefühlen stellen und zwar ohne Kompromisse und ohne Einschränkungen. Wenn sie sich nun nicht wirklich ihre Gefühle eingestand und ihr Leben ordnete, würde sie nie wieder glücklich in ihrem Leben werden. Christine hatte auf etwas Ruhe gehofft, doch sie blieb nicht lange allein um in Ruhe nachzudenken, denn wenige Minuten, nachdem der Arzt gegangen war, saß Raoul an ihrem Bett und hielt ihre Hand, scheinbar rang er mit sich, ihr etwas wichtiges zu sagen.

"Christine, mein Engel.", begann er, "Dr. Abitof meint, dass dir Paris nicht bekommt, und das es besser wäre, dich an einen anderen Ort zu bringen. Und... ."

Christine hörte ihm geduldig zu und schaute ihn unschuldig an. "Und?"

"Und er meint, wir sollten darüber nachdenken, unsere Hochzeit um ein paar Wochen zu verschieben.", brachte er schweren Herzens hervor.

"Um wie viel?", fragte sie zaghaft.

"Ich weiß nicht, aber ich fürchte, wir werden erst in England heiraten können, in vier Wochen, sind wir in Cherbourg, die Überfahrt dauert einen Tag, einen weiteren bis zu unserem Haus. Der Arzt meinte, wir sollten auf jeden Fall abwarten, bis wir uns eingelebt haben, wir werden dann entscheiden, wann wir heiraten."

Christine schluckte schwer, das hieße, sie würde mehrere Wochen mit ihm unter einem Dach leben, ohne verheiratet zu sein. Was die Leute dann wohl über sie denken würden, aber was sollte sie tun, sie würde sich dem Schicksal ergeben müssen, wie schon so oft in ihrem Leben.

"Raoul, ich bin noch etwas müde.", meinte sie und er verstand sofort und ließ ihr die Ruhe, die sie benötigte. Ayesha sprang auf ihr Bett und tapste auf ihrem Bauch herum. Unweigerlich musste sie an Eriks Katze denken, sie stupste das kleine Näschen an, worauf sie freudig mauzte.

"Weißt du Ayesha, ich verstehe es nicht, wieso fühle ich mich bei dem Gedanken, mit Raoul unverheiratet unter einem Dach zu leben, so unwohl. Immerhin habe ich mit Erik auch zusammen gelebt ohne mit ihm auch nur verlobt zu sein. Manchmal verstehe ich mich selber nicht. Als ich bei Erik war, war ich über jede Sekunde, die ich mit Raoul hatte glücklich und nun, wo ich bei Raoul bin, fühle ich mich nicht wohl. Verstehst du das meine Kleine?", sagte sie und schaute Ayesha ebenso durchdringend an, wie Eriks Ayesha das bei ihr auch immer getan hat.  Das kleine Bündel Katze auf ihrem Bauch schaute sie schief an und schmiegte sich dann an sie, als könne sie ihr Frauchen gut verstehen.

"Er will die Hochzeit nach hinten verlegen. Was, wenn er dann einen Grund sucht, mich doch nicht zu heiraten? Wo soll ich dann nur hin? Nicht einmal Erik würde mich dann wieder aufnehmen.", meinte sie gedankenverloren. Bei ihrem letzten Satz schlug Ayesha sie mit ihrer kleinen Tatze etwas schärfer, als wolle sie ihr sagen, dass Erik sie immer wieder bei sich aufnehmen würde, egal was geschehen würde.

"Du hast recht, er wäre immer für mich da.", sagte sie schmunzelnd, worauf sich ihr Kätzchen wieder genüsslich hinlegte.

"Er wäre immer für mich da. Und ich, wäre ich immer für ihn da, wenn er mich bräuchte? Ach, Ayesha, ich weiß einfach nicht was ich denken soll. Ich kenne Raoul schon seit meiner Kindheit und war mir immer sicher ihn zu lieben, doch seit Erik gestern Abend hier war, weiß ich einfach nicht, ob es richtig war, die beiden über mein Leben entscheiden zu lassen. Er überließ mir diese Entscheidung und fällte sie am Ende doch selbst, indem er mich mit Raoul fortschickte. Weißt du, als ich damals seine Tränen schmeckte fühlte ich mich so eigenartig, so als würde ich fallen, doch es war kein unangenehmes Gefühl. Ganz im Gegenteil, und dann als alles vorbei war, schickte er mich fort, fort mit Raoul. Weißt du, er muss mich wirklich sehr lieben, wenn er lieber auf ein Leben mit mir verzichtet, als mich unglücklich zu wissen.", murmelte sie. Ayesha horchte wieder auf und schaute Christine neugierig an.

"Ich weiß, ich frage mich auch, ob ich wirklich unglücklich wäre, wenn ich bei ihm geblieben wäre. Er hat mich nie berührt, das wundert mich bis heute, er hat nicht einmal den Versuch unternommen."

Ihre Katze miaute zustimmend und schien auf irgendetwas zu warten.

"Manchmal habe ich das Gefühl, dass du genauso bist wie seine Ayesha, als würdest du ihn kennen und mich verstehen.", sagte sie und kraulte sie zärtlich hinter den Ohren, worauf sie genüsslich schnurrte. Während Christine ihre Katze kraulte, versank sie in einen tiefen Schlaf mit einem Traum, der ihre eigentlichen Gefühle ans Tageslicht beförderte:

Christine stand mitten auf der Place Vendôme und war umringt von einer Menschenmasse, die sie anfeindete, als hätte sie einen Menschen ermordet. Man kehrte ihr den Rücken zu und niemand reagierte auf sie, man mied sie, wie eine Aussätzige.

"WAS? WAS HABE ICH GETAN?", schrie sie und schaute sich hilfesuchend um, doch niemand würdigte sie eines Blickes. Plötzlich bildete sich ein Spalier und ein Mann mit gesenktem Blick, schritt hindurch. Er blickte auf und schaute Christine traurig fragend an. Sie erstarrte, Raoul stand vor ihr.

"Was ist hier los?", fragte sie verzweifelt.

"Du hast dich so entschieden, nun musst du dein Los auch tragen.", sagte er kalt, drehte sich um und verließ sie wieder. Christine drehte sich verzweifelt im Kreis herum. Die Menge kam wieder näher auf sie zu und schaute sie bedrohlich an.

"Der Tod gehört dir! Der Tod gehört dir!........", ein bedrohlicher Sprechchor erhob sich aus der Menge und machte ihr noch mehr Angst. Die Masse kam ihr nicht nur immer näher, sondern wuchs auch noch in die Höhe. Sie fühlte sich unendlich klein und hilflos, sie verstand die Menschen nicht was sie meinten.

Am einen Ende der Menschenmenge stand Raoul noch immer und schaute zu, wie Christine immer mehr bedroht und geächtet wurde, jederzeit bereit ihr zu vergeben, sollte sie zur Besinnung kommen und sich der Masse anschließen.

"Noch kannst du zurück und die Menschen behandeln dich dann so, wie es sich gehört.", rief er ihr kühl zu und wandte sich ab.

Am anderen Ende, stand ein Mann, ganz in rot gekleidet, auch vor ihm bildete sich plötzlich ein Spalier, jedoch nicht wie bei Raoul aus Ehrfurcht, sondern aus Abscheu. Sie mieden seinen eisigen Blick, den er dieser dummen Menge schenkte und eilte majestätischen Schrittes auf Christine zu. Sie kniete bereits auf dem Boden, wie eine Verzweifelte, die für ihre Sünden um Gnade flehte. Der Mann in Rot, dessen schreckliches Gesicht für jeden deutlich sichtbar war, ging auf sie zu und legte schützend seine Arme um sie.

"Ich bin bei dir und ich werde dich vor dieser Menge beschützen.", sagte er zärtlich, mit weicher Stimme und strich ihr beruhigend über den Rücken. Sie blickte zu dem Mann auf und sah in Eriks Gesicht.

"Was ist geschehen? Warum verachten die Menschen mich so?", fragte sie unwissend.

"Sie verachten dich, weil sie deine Entscheidung nicht verstehen.", meinte er mitleidig.

"Meine Entscheidung?"

"Ja, alle wissen, dass deine Wahl auf mich fiel. Sie verstehen das nicht und behandeln dich daher so. Aber ich werde dich vor allen Anfeindungen beschützen. Ich bin bei dir, für immer, ich liebe dich."

Christine schreckte auf, Tränen liefen ihr über dem Gesicht. Sie kuschelte sich an ihr Kätzchen und schluchzte nur noch.

"Ich liebe ihn, da bin ich mir sicher. Aber ich habe Angst.", flüsterte sie Ayesha ins Ohr, worauf hin diese nur verständnislos miaute. Christine glaubte plötzlich in ihrem Kopf seine Stimme zu hören, wie sie es schon oft erlebt hatte, und ihr Mut zusprach, damit sie sich ihren Ängsten stellen möge.

"Denn ich will dich bewahren, vor Ängsten und Gefahren."*



"Aber ich kann nicht mehr zurück.", sagte sie sich leise und zog die Decke über ihren Kopf. Auch wenn sie sich eingestand Erik zu lieben, so konnte sie doch nicht Raoul verlassen, sie hatte ihm ihr Wort gegeben ihn zu heiraten. Es gab kein zurück mehr. Also musste sie ihre Entscheidung durchziehen, auch wenn sie diese langsam zu bereuen begann. Aber wie sollte sie sich befreien? Konnte sie zurück? Würde Raoul sie verstehen? - Wohl ehr nicht. Sie musste mit ihrem Fehler leben und die Konsequenzen tragen: ein Leben mit Raoul.

Christine versuchte mit dem Gefühlskarussell, das sich unaufhörlich in ihr drehte, zu Recht zu kommen. Immer wieder redete sie sich ein, dass sie bei Raoul bleiben müsse und nicht mehr zu Erik zurück gehen könne, nun wo die Entscheidung einmal gefällt war. Sie ignorierte einfach, dass es ihr dadurch von Tag zu Tag schlechter ging, sie übersah einfach die dunklen Ringe unter ihren Augen, die sich gebildet hatten, weil sie seit nunmehr fast zwei Wochen kaum geschlafen hatte. Sie verschanzte sich in ihrem Zimmer und ließ die Welt draußen stehen und wartete, dass endlich der Tag ihrer Abreise kommen würde. Erst dann würde sie vielleicht etwas Ruhe finden, wenn sie Paris und damit Eriks Nähe, hinter sich lassen würde und an einem fremden Ort ein neues Leben beginnen würde. Raoul zeigte erstaunlicherweise Verständnis und gönnte ihr die Abgeschiedenheit ihres Zimmers, er glaubte, dass dadurch ihre Abreise nach England für sie leichter werden würde. Selbst als in seinem Haus alle damit beschäftigt waren, die Sachen zusammen zu packen, die sofort mit nach England sollten, verschaffte er ihr ein ruhiges Zimmer, in dass sie sich zurückziehen konnte, als Minette mit ihren Sachen beschäftigt war. Ihm entging die langsame Veränderung, er übersah die sacht aufkeimende Stärke sich gegen die auferlegte Wahl zu wehren, er übersah es, wie er immer Dinge übersah, die nicht in seine Planung oder seine Vorstellung passten und schob es auf die seelische Last, die ihr diese Stadt auferlegt hatte.


* aus ALWs Phantom der Oper "Mehr will ich nicht von Dir"

  


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