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VII. Aufbruch

Gestern Abend waren Christine und Raoul in Cherbourg eingetroffen und hatten zwei Zimmer im besten Hotel der Stadt bezogen. Christine hatte sich sofort zurückgezogen und hatte noch lange aufs Meer geblickt, immer mit dem Gedanken, dass sie übermorgen nach England aufbrechen würde. Raoul hingegen hatte noch lange im Salon gesessen und hatte mehrere Gläser Wein zu sich genommen, vielleicht etwas zu viel, aber das war ihm egal gewesen, er war nur froh, endlich diese schrecklichen Erinnerungen hinter sich lassen zu können.

In einem kleinem Hotel, wo die Auswanderer die letzte Nacht in Europa verbrachten, saßen in einem kleinen dunklen Zimmer Erik und Jules und besprachen alles, was Jules in New York noch zu erledigen hatte. Wie Jules gestern bestätigt bekommen hatte, würden sie in den nächsten Wochen alle in einem kleinen Haus wohnen, bis die ersten Aufträge für Häuser eingegangen wären und man sich dann etwas größeres würde leisten können.

"Wann werden wir genau auslaufen Jules?", wollte Erik, der am Fenster stand und in die dunkle Stadt blickte, wissen.

"Übermorgen, so gegen Mittag, wir müssten bis spätestens elf an Bord sein, dann werden wir auslaufen, damit dann, wie mir mitgeteilt wurde, das Mittagsschiff nach England ablegen kann, es liegt hinter uns, und muss solange warten, bis wir ausgelaufen sind.", meinte Jules beiläufig.

"England.", murmelte Erik unhörbar vor sich hin.

Wenig später verabschiedete sich Jules und ließ Erik mit seinen Gedanken allein. Seit sie hier waren, verließ er im Morgengrauen das Hotel und ging am Strand spazieren, setzte sich an einen verlassenen Ort und zeichnete unablässig und wenn er vermummt am Nachmittag zurückkehrte, zog er sich in sein Zimmer zurück und setzte seine Zeichnungen in Entwürfe um. Jules machte sich insgeheim etwas sorgen um ihn, als er noch in Paris lebte, hatte Erik ihn oft genug beauftragt Dinge für Damen zu besorgen, weswegen er sich oft genug gewundert hatte und nun dieser doch recht plötzliche Aufbruch nach New York. Wenn er Zeit hatte grübelte er oft darüber nach, was der Grund für den Umzug war, und immer wieder kam er zu dem Schluss, dass die junge Frau, der er einmal begegnet war, ihn verlassen hatte und er nun einfach vergessen wollte.

Der letzte Tag in Frankreich war angebrochen und nachdem Christine am späten Vormittag zum Frühstück erschienen war, waren sie zum Strand gegangen, um dort einmal alles hinter sich zu lassen. Raoul hatte ihr einen neuen Schal geschenkt, denn der Wind am Meer war doch kühler als erwartet und Christine hatte keinen Mantel angelegt, der sie hätte wärmen können. Sie wirkte richtig glücklich, sie lächelte wieder und als sie am Strand waren, hakte sie sich bei Raoul unter und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Raoul war zufrieden, genau so sollte es von nun an sein, jetzt hatte er dieses Ungeheuer besiegt, da war er sich sicher.

Der Wind war nicht sehr stark, aber kräftig genug, dass Christine gezwungen war ihren Hut festzuhalten und noch jemand hatte bei dem Wind Probleme. Immer wieder kämpfte Erik mit dem Papier, das am liebsten davon fliegen wollte, aber er würde sich von etwas Wind nicht unterkriegen lassen. Er saß am Strand, vor Blicken geschützt, saß er hinter einem hohen Felsengebilde und zeichnete, was ihm in den Sinn kam. Mal waren es Einzelheiten eines Gebäudes, mal nur eine Landschaft oder Plastiken, er ließ seiner Kreativität freien Lauf und war so produktiv, wie schon lange nicht mehr. Er kam sich beinah so vor, wie in Giovannis Keller.

Plötzlich kam eine heftige Böe und riss Christine ihren Schal von den Schultern und ließ ihn über den Sand tanzen. Raoul, versuchte ihn, wie als kleiner Junge, wieder einzufangen und brachte mit dem Anblick den er bot, Christine zum Lachen. Sie lachte so herzlich, wie Raoul es schon seit Ewigkeiten nicht mehr gehört hatte.

"Es ist schön, dich wieder lachen zu sehen.", meinte er zu ihr, als er Christine den Schal wieder umlegte und ihr einen sanften Kuss auf die Schulter hauchte. Christine lächelte nur, sie war irgendwie glücklich, denn alles hier erinnerte sie an ihre unbeschwerte Kindheit.

"Morgen um diese Zeit legen wir ab.", sagte Raoul gedankenverloren, als er auf das Meer hinausblickte. "Sobald das Schiff nach New York ausgelaufen ist, können wir auch auslaufen."

`New York´, geisterte es Christine durch den Kopf, und plötzlich wurde sie wieder ernst und verschlossen, was, wenn Erik auf diesem Schiff war. Sie wollte es herausfinden, sie musste einfach.

Am späten Nachmittag, als Raoul die Briefe durchging, die er von seinem Freund erhalten hatte, in denen ihm geeignetes Hauspersonal und erste Einladungen bekannt gegeben wurden, entschloss sich Christine noch einen Spaziergang zu machen. Sie hatte ihr kleines Kätzchen am Tag, als sie von Erik die Koffer erhalten hatte, nach Cherbourg in Quarantäne schicken müssen und wollte sie nun persönlich abholen. Raoul konnte nicht weg und wollte auch nicht diese Katze abholen, die er zu hassen begonnen hatte, als er erfahren hatte, das Erik auch so ein Vieh hatte.

"So Mademoiselle, hier hätten wir ihren kleinen Liebling. Sie hatte auch etwas Gesellschaft, im Käfig gegenüber saß nämlich auch eine Siamkatze.", sagte der Veterinär, als er Ayesha seiner Herrin übergab.

"Wirklich, geht sie auch nach England?", fragte sie höflich nach.

"Nein, Monsieur Bernard, so heißt der Besitzer wird morgen nach New York auslaufen."

"Monsieur Bernard.", wiederholte sie fragend, sie hatte eigentlich einen anderen Namen erwartet, aber vielleicht war er in Eriks Auftrag hier gewesen und hatte deshalb nicht Eriks Namen angegeben.

Christine ging jedenfalls, als sie zum Hotel zurück wollte, noch am Schalter für Schiffspassagen vorbei und wollte herausfinden, ob Erik wirklich morgen erst Frankreich verlassen würde.

"Monsieur, können sie mir eine Auskunft erteilen?", fragte sie den freundlich dreinblickenden Mann hinter dem Schalter.

"Worum geht es denn, Mademoiselle."

"Ich wollte Fragen, ob sie mir sagen können, ob ein Bekannter von mir, die morgige Passage nach New York nimmt. Ich dachte nämlich, dass er schon längst abgefahren sei."

"Wie heißt denn ihr Bekannter."

"Erik."

"Und weiter?"

"Das weiß ich nicht, irgendwie hat er mir seinen Familiennamen immer verschwiegen.", meinte sie und wurde sich zum ersten Mal bewusst, wie wenig sie doch eigentlich von ihrem Engel wusste.

"Nun, einen Erik kann ich auf der Passagierliste nicht finden."

"Dann wird er wohl mit seinem Freund Monsieur Bernard zusammen reisen.", meinte sie und lächelte den Schalterbeamten freundlich an.

"Nun, ein Monsieur Jules Bernard hat tatsächlich dreizehn Passagen für New York gebucht." erwiderte der Beamte. "Und eine Katze angemeldet.", fügte er hinzu, als er die kleine Siamkatze im Arm der jungen Dame erblickte.

Christine traute ihren Ohren nicht, er war noch hier, vielleicht würde sie ihn finden, dann könnte alles wieder gut werden. Aber wo sollte sie nur anfangen.

"Sie wissen nicht zufällig, wo Monsieur Bernard wohnt?"

"Nein, tut mir Leid, aber das weiß ich wirklich nicht."

"Danke, Guten Tag, Monsieur."

Christine eilte noch mal zur Quarantänestation zurück, und fragte den Tierarzt, ob dieser vielleicht wüsste, wo Jules Bernard wohnte, aber auch er wusste es nicht. Ein wenig traurig kehrte sie zum Hotel zurück und fragte in jedem kleinen Hotel, dass sie auf dem Heimweg sah, nach ob ein Monsieur Bernard dort wohnte, aber immer bekam sie ein Nein zur Antwort. Es war bereits dunkel, als Christine endlich wieder im Hotel war, Raoul hatte sich schon Sorgen gemacht und wollte gerade die Gendarmerie informieren, als sie das Foyer betrat.

Jules hatte Erik natürlich von der Siamkatze erzählt, die seiner Ayesha in der Quarantäne etwas Gesellschaft geleistet hatte. Erik war daraufhin in der Dunkelheit zum Strand geeilt, er hatte sich also nicht geirrt, als er am Mittag ihr Lachen am Strand gehört hatte, sie war hier und würde morgen nach England übersetzen. Vieles geisterte ihm durch den Kopf, vor allem, dass sie so unbeschwert wirkte. Gewiss hatte er sich gewünscht, dass sie glücklich würde, doch hatte er gehofft, dass sie wenigstens etwas traurig war. Aber offensichtlich hatte sie nur noch Augen für Raoul und hatte ihn längst vergessen.

Es war ein sonniger Tag mit idealem Wind für eine Schiffsfahrt. Familie Bernard und Erik waren früh am Morgen zum Hafen gefahren und waren an Bord der Madeleine, wie das Schiff hieß, welches sie nach New York bringen sollte, gegangen.

"Dieser Name wird mich aber auch überall hin verfolgen.", war Eriks einziger Kommentar gewesen, als er den Schiffsnamen gelesen hatte.

Gleich dahinter lag ein weiteres Schiff, mit Ziel nach Dover, das bereits beladen wurde und auch dort gingen die ersten Passagiere schon an Bord, aber Christine konnte er nicht sehen.

Raoul ging nervös im Hotelfoyer auf und ab, sie mussten sich beeilen, in zehn Minuten würde das Schiff nach New York auslaufen, und weitere zehn Minuten später ihr Schiff nach Dover. Christine hatte verschlafen, zumindest hatte Minette das behauptet, als sie hektisch zwischen dem Foyer und dem Zimmer Christines hin und her lief und Koffer und Schachteln nach unten trug. Endlich kam sie, hoch elegant in einem dunkelrotem Reisekostüm gekleidet. Eilig gab sie den Schlüssel ab, ehe sie Raoul begrüßte und sich für die Verspätung entschuldigte. Sie sah bezaubernd aus, dachte sich Raoul, nur die Katze in ihrem Arm störte ihn, aber da konnte man nichts machen, sie nun mal hing an dem Tier.

Der Kutscher beeilte sich, durch den dichten Verkehr zum Hafen zu gelangen. Einige Male beschimpfte er lauthals andere Kutscher und befahl ihnen Platz zu machen. Und dann hatten sie es gerade noch rechtzeitig geschafft. Sie fuhren um Elf vor dem Schiff vor, just in dem Augenblick, in dem die Madeleine ablegte. Christine blickte etwas wehmütig dem Schiff hinterher, konnte aber nicht lange schauen, denn Raoul zog sie förmlich mit an Bord.

Erik hatte sich erst an Deck begeben, als das Schiff abgelegt hatte und blickte nun auf das Schiff, dass nach England gehen sollte. Raoul und Christine standen schon an Deck, während sich die Bediensteten von Raoul abmühten das Gepäck eilig an Bord zu bringen. Christine schaute sich neugierig um, während der Vicomte dem Offizier die Fahrkarten zeigte und die Kabinennummern erfuhr. Christine stand am Bug und schaute ein wenig wehmütig dem Schiff nach New York hinterher. Es kam ihr sogar so vor, als würde sie jemand beobachten, aber ihre Augen waren nicht scharf genug, um zu erkennen, ob wirklich jemand am Heck des auslaufenden Schiffes stand.

Erik hingegen konnte Christine sehr wohl erkennen, als sie zu seinem Schiff hinüberschaute. Tränen standen ihm in den Augen, als er sie zum allerletzten Mal erblickte und er konnte sich von diesem Blick nicht lösen, selbst, als sie überhaupt nicht mehr zu erkennen war, schaute er in ihre Richtung.

Nun begann für beide ein neues Leben, sie würden von vorne anfangen, jeder für sich. Christine würde heiraten und Kinder kriegen, Raoul würde zufrieden sein, immerhin hatte er eine hübsche Frau. So dachte Erik, seufzte schmerzlich bei dieser Vorstellung ging in seine Kabine, er würde nicht noch einmal an Deck kommen, sondern hier bleiben, bis sie in New York wären.

Die Überfahrt verlief ruhig, es gab keinerlei Zwischenfälle, nun, was nicht verwunderte mit dreizehn Passagen hatte Jules Bernard das Schiff so gut wie ausgebucht, und die wenigen anderen Passagiere waren arme Handwerker aus Deutschland oder Südeuropa, die ihr Glück in Amerika versuchen wollten und sich um die anderen Passagiere nicht kümmerten. Eine Überfahrt die von Neptun wahrlich gesegnet war, die See war ruhig, die Mannschaft zufrieden, die Versorgung ausgezeichnet und es gab keine Streitigkeiten zwischen Erik und Madame Bernard, die in der einen Woche Erik schon oft genug, fast bis zur Weißglut gereizt hatte. Nur gut, das Jules' Kinder ihm gegenüber zurückhaltend waren, bis auf Florence, die ihn oft beobachtet hatte, wenn er zeichnete und ihn während der Überfahrt gefragt hatte, ob er sich nicht ihre Bilder ansehen würde. Er war darüber sehr erstaunt, immerhin wagte sie sich zu ihm, obwohl ihre Mutter ihr das mit Sicherheit verboten hatte. Anfangs hatte er mit Kinderzeichnungen gerechnet, doch Florences Talent war offensichtlich, vielleicht nicht als Architektin, aber als Malerin würde sie gewiss Erfolg haben, wenn man sie nur förderte. So war auch Erik während der Überfahrt beschäftigt und wurde nicht ganz zum Einsiedler.



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