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IX. Rosen

Endlich waren sie in England, weit weg von den Erinnerungen der Vergangenheit und einer neuen ruhigen Zukunft so nahe. Raoul fühlte sich etwas schuldig, dass er Christine beim Frühstück gekränkt hatte und überlegte, wie er sein schlechtes Verhalten wieder gut machen könnte. Doch erst einmal mussten sie diese lästige Zollkontrolle über sich ergehen lassen, die er mehr als lästig fand, immerhin war er Aristokrat und missbilligte genauso behandelt zu werden, wie das einfache Volk.

Aber nach einer halben Stunde Kontrolle hatten sie es geschafft, sie waren wirklich angekommen. Raoul blickte sich um, um nach einer Droschke Ausschau zu halten, die sie zum Bahnhof bringen sollte, von dort aus, würden sie weiter noch London reisen und ein paar Tage im Haus seines Freundes Charles verbringen, ehe sie in ihr eigenes kleines gemütliches Häuschen in der Nähe von Windsor fahren würden. Doch er fand keine Droschke, dafür etwas, womit er sich bei Christine entschuldigen konnte.

Christine unterhielt sich mit Minette über die weitere Reise und bemerkte nicht, wie Raoul zu dem Floristen hinüber eilte. Christine blickte sich neugierig um und bewunderte die Häuser, die dicht an den Felsklippen gebaut waren und mit ihnen scheinbar eine Einheit bildeten. Als sie in Frankreich abgelegt hatten, hatte die Sonne geschienen, doch nun, war sie von dichten Wolken verhangen, die sich langsam zu leeren begannen. Anfangs tröpfelten nur vereinzelt Regentropfen aus den schweren grauen Wolken, doch dann kamen immer mehr und Gaston, der getreue Diener des Vicomtes begann den großen Regenschirm hervorzuholen.

"Da begrüßt uns typisch englisches Wetter.", meinte er entschuldigend und schützte Christine mit dem großen dunklen Schirm, wofür sie ihn dankbar anlächelte.

"Christine.", lenkte Raoul die Aufmerksamkeit auf sich. "Ich wollte mich für mein Verhalten heute Morgen entschuldigen und hoffe, du verzeihst mir.", sagte er und reichte ihr einen großen Strauß tiefroter Rosen entgegen, die sie etwas verdutzt entgegennahm.

In dem einen Arm hielt sie Ayesha, in dem anderen einen Strauß roter Rosen - roten Rosen, warum gerade diese Blumen, dachte sie sich. Unweigerlich fiel ihr wieder die Geschichte ein, die Erik ihr einst erzählt hatte, von der weißen Rose und der Nachtigall. Damals hatte sie sich nicht entscheiden können Eriks weiße Rose zu sein und für ihn den Mut aufzubringen, den die weiße Rose für die Nachtigall aufbrachte und nun schenkte ihr Raoul diese Blumen, ohne eine Ahnung zu haben, was er damit anrichtete. Über Christine brachen alle Gefühle ein, die nur über sie einbrechen konnten. Sie begann sich für ihre Feigheit zu hassen, sie war verzweifelt, verletzt, wütend auf sich, sie sehnte sich nach Erik, konnte es aber nicht gestehen, sie wollte frei sein, doch begriff noch immer nicht, dass sie sich, um frei zu sein, von Raoul loslösen musste. Panik ergriff sie und sie rannte davon, sie eilte in die Halle die sie entdeckt hatte, als sie sich umgesehen hatte, sie rannte und wollte fliehen. Sie wollte keine roten Rosen, zumindest nicht von Raoul, sie wollte nur weg und so floh sie an einen Ort, an dem er ihr nicht folgen konnte. Sie sah sich hastig um und entdeckte schließlich den von ihr erhofften Zufluchtsort, eine öffentliche Bedürfnisanstalt für Damen. Da dies der Wartesaal für die Passagiere der ersten Klasse war, war dieser Raum in einem entsprechenden sauberen Zustand. Sie verkroch sich in einen der separaten Räume, verschloss die Tür und hockte sich auf den Boden.

Ayesha, die sich bis jetzt nicht zu Wort gemeldet hatte, fand es nun an der Zeit, auf sich aufmerksam zu machen und begann zu mauzen und an den Bändern ihres Hutes zu ziehen. Christine blickte ihr Kätzchen mit fragenden Augen an, als könne sie dadurch Kontakt zu Erik aufnehmen.

"Ach, Ayesha, er darf mir keine Rosen schenken und schon gar nicht in dieser Farbe. Wie kann er nur so gedankenlos sein."

Die Katze für gewöhnlich verständnisvoll, wenn Christine Sorgen hatte, gab diesmal nur ein vorwurfsvollen Mauzten von sich.

"Was ist?"

Ayesha schaute sie nun auch noch vorwurfsvoll an.

"Ich verstehe, es ist also meine Schuld. Ich hätte also lieber gleich dieses Gefühlschaos verhindern sollen nicht wahr. Aber nun ist es zu spät. Bitte, bleib wenigstens du auf meiner Seite Ayesha."

Ayesha maunzte zufrieden vor sich hin.

Während Christine mit Ayesha sprach, versuchte Raoul verzweifelt eine Droschke zu finden. Er mühte sich mit der fremden Sprache ab, was ihm die meisten Kutscher nicht gerade dankten. Raoul war wütend und wollte gerade zu seinem Diener zurückgehen, als plötzlich eine Kutsche neben ihm zum Halten kam.

"Sir. Sind sie der Vicomte de Chagny?", fragte ein Mann, der sich mit dem französischen Namen abmühte.

"Ja, wer will das wissen."

"Mister Charles Franklin schickt mich, um sie zum Bahnhof zu bringen."

"Das ist schön, dort drüben, ist das Personal und unser Gepäck. Ich werde meine Verlobte holen.", sagte er höflich. Er war seinem Freund in diesem Moment äußerst dankbar, dass er eine Droschke organisiert hatte. Er betrat den Wartesaal und hoffte Christine zu finden, doch so sehr er sich bemühte, er sah sie nicht. Gerade wollte er wieder gehen, als sich eine unscheinbare Tür öffnete. Christine wischte sich ein letztes Mal über ihr Gesicht, atmete tief durch und wollte nach draußen gehen, als sie Raoul sah.

"Raoul."

"Christine, schön, ist alles in Ordnung? Ich wollte dir mit den Blumen doch nur eine Freude machen."

"Ich weiß, es ist nur, Rosen erinnern mich an eine Geschichte, die mir Erik erzählt hat.", sagte sie vorsichtig, während Ayesha mit ihrer Pfote in die Rosen schlug.

"Ich verstehe.", sagte er kühl und nahm sie liebevoll tröstend in den Arm. "Komm, die Kutsche wartet, wir müssen zum Bahnhof, um den Zug nach London zu erreichen.", meinte er, nahm ihre Hand und führte sie zur Kutsche. In dem Schlag der Katze meinte er zum ersten Mal ein Zeichen zu sehen, dass sie auf seiner Seite stand, jedoch entging ihm, das Ayesha vielmehr mit den Blumen spielte und Raoul von Zeit zu Zeit düster anfunkelte, sie schien zu spüren, das Raoul nicht der Richtige für Christine war.

Die Reise nach London verlief glücklicherweise friedlich, nachdem sie auf der Straße zum Bahnhof, die an den Klippen entlang führte, auf Christines Bitten hin angehalten hatten, hatte sich Christine dazu entschlossen, den Strauß dem Meer zu überlassen. Raoul sah darin ein Zeichen seines endgültigen Sieges und eines Abschiedes von Erik, während Ayesha es ehr als Opfergabe sah, die mit dem Versprechen einherging zu Erik zurückzukehren. Christine sah es nur als Befreiung von einer Last, der Last ihres Gefühlschaos.

  

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