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Epilog

Stille lag über dem prächtigen Anwesen, dass sich Erik nach seiner Ankunft hier in New York gekauft hatte, um sich dort für immer niederzulassen. Einsam waren seine ersten Stunden in dieser fremden Stadt, die sich mittlerweile so sehr verändert hatte. Die Häuser wuchsen in die Höhe und überragten die Bäume um ein vielfaches, ihre Fassaden waren schmucklos und Erik fand dieses neuen Häuser einfach nur hässlich. Diese Gebäude hatten nichts mehr mit der erhabenen Architektur gemein, die er vor so vielen Jahren als Kind studiert hatte.

Es war still geworden und dunkel. Die Spiegel waren mit schwarzem Chiffon verhangen und die schweren Samtvorhänge zugezogen. Die kleine Uhr auf dem Kaminsims schlug gerade sechs. Draußen graute der Morgen, noch zeigte sich die Sonne nicht, doch es versprach ein schöner Frühlingstag zu werden. Für Erik jedoch würde es keinen Sonnenaufgang mehr geben.

Mit hängenden Schultern und einem schweren Seufzer ging Erik durch die leeren Räume seines prächtigen Hauses. Charles war noch in Washington und würde, wenn er heute Abend nach Hause kam, ein leeres verlassenes Haus vorfinden. Einen letzten Brief hinterließ Erik für seinen Sohn auf dem kleinen Tischen in der Eingangshalle, wo er ihn bestimmt finden würde. Dann schleppte er sich müde nach oben in sein Schlafzimmer.

Leise öffnete er die Tür, als fürchte er, er könnte Christine aufwecken, doch sie würde heute morgen nicht wach werden. Seit zwei Stunden lag sie in ihrem letzten Schlaf und er würde ihr nun folgen.

* * *

"Erik.", flüsterte sie schwach. "Ich liebe dich."

Ihm rannen die Tränen übers Gesicht, während er ihre Hand fest in seiner hielt. Dies durfte nicht geschehen, sie war doch noch so jung. Warum nur war Gott so grausam, dachte er sich traurig.

"Nicht, mein Engel, du musst dich schonen.", mahnte er sie liebevoll und hatte Mühe seine Stimme unter Kontrolle zu halten, so zitterte sie. "Der Arzt meint, du musst dich ausruhen und darfst dich nicht anstrengen, wenn du schnell gesund werden willst."

Christine lächelte ihn an und auch ihr rannen nun Tränen übers Gesicht, als sie ihn betrachtete, ohne Maske. Mit letzter Kraft hob sie ihre Hand zu seinem Gesicht und versuchte es an das ihre zu ziehen. Vorsichtig beugte er sich zu ihr hinüber und ein letztes Mal küssten sie sich innig.

"Lügner.", wisperte sie schwach, als sie die Kälte in sich aufsteigen spürte. "Aber ich liebe dich und werde es immer tun."

"Ich liebe dich auch, mein kleiner Engel.", hauchte Erik ihr ins Ohr und betrachtete sie, während er ihre Hand immer noch hielt.

Sie schloss ihre sanften Augen und langsam glitt ihre Hand aus Eriks. Ihr Brustkorb hob und senkte sich nicht mehr, sie war eingegangen in die himmlischen Gefilde und wartete dort auf ihren Engel der Musik.

"Nein. Christine bleib bei mir.", flehte Erik unter Tränen und versuchte sie immer wieder wach zu küssen, wie er es jeden Morgen tat, doch sie rührte sich nicht mehr. Vorsichtig deckte er sie zu und ging dann nach unten, wo er sich an seine prächtige Orgel setzte und sein bestes Requiem spielte. Noch nie hatte er ein Requiem so voller Trauer gespielt und gesungen, wie heute Morgen, es war einfach herzzerreißend. Derjenige, der bei diesem Requiem nicht weinte, hatte kein Herz und Erik weinte, er weinte, wie er noch nie in seinem Leben geweint hatte. Nun war alles aus, was machte das Leben für ihn noch für einen Sinn, jetzt, wo er Christine verloren hatte, wollte auch er nicht mehr leben.

Nach über einer Stunde verstummte die Orgel und Erik schloss die Mappe mit seiner letzten Komposition. Resigniert schlurfte er zu dem kleinen Sekretär, an dem Christine immer gesessen hatte, wenn sie ihrer alten Freundin Meg geschrieben hatte. Sehnsuchtsvoll seufzte er, als er sich niederließ und auf ihrem Papier, mit ihrer Feder seinen letzten Brief an seinen Sohn schrieb.

* * *

Es war vollbracht dachte er sich, als er leise die Tür hinter sich schloss und das Zimmer betrat, dass von zwei riesigen Kandelabern in ein schwaches Licht getaucht wurden. Christine lag noch immer in dem großen Bett und schlief den Schlaf der Gerechten. Wie friedlich und glücklich sie doch aussah, wirklich wie ein Engel. Langsam ging er zu den großen Kandelabern und blies jede Kerze einzeln aus und sog den Geruch der verloschenen Kerzen in sich ein. Er wollte nicht mehr leben, wenn Christine nicht mehr war, er konnte es auch nicht und würde es auch nicht, denn er spürte schon, wie sich sein Herz schmerzhaft zusammenkrampfte. Doch er würde keinen Laut des Schmerzes von sich geben, denn dieser Schmerz tat ihm in der Seele nicht weh, denn er würde ihn zu seinem Engel bringen. Vorsichtig legte er sich zu Christine auf das Bett und legte seine Arme um ihren bereits kalten Körper und zog sie an sich, wie er es früher immer getan hatte, wenn sie noch nicht aufstehen wollten. Er schloss seine Augen und summte ein altes Schlaflied aus der Bretagne, es war jenes Wiegenlied, das Christine auch immer gesummt hatte, wenn sie sich allein glaubte, in ihrer Garderobe. Wie oft hatte er ihr heimlich gelauscht, wenn er hinter ihrem Spiegel stand.

Seine engelsgleiche Stimme verstummte, sein Herz zog sich ein letztes Mal schmerzlich zusammen, ehe es aufhörte in seiner Brust zu schlagen. Nun war es vollbracht, er würde nicht mehr für sie singen, zumindest nicht in diesem Leben. Erik glitt hinüber zu seinem Engel. Mit einem Lächeln auf seinen deformierten Lippen und seiner Liebsten im Arm war er in den Tod gesunken.

* * *

Eine Woche war es her, dass der beliebte Architekt der New Yorker Gesellschaft gestorben war und erst jetzt erfuhr man auch in Frankreich davon. Raoul las wie jeden Morgen den Le Monde, als ihm eine rot umrandete Todesanzeige auffiel.

Erik und Christine Duboir, geb. Daaé

traten in Liebe umschlungen vor ihren Schöpfer.

Mögen sie in Liebe vereint ewig Ruhen.

Raoul las die Anzeige und spürte nichts, er spürte nicht einmal Trauer um den Tod der Frau, die er einst geliebt und für die er sein Leben riskiert hatte. Er spürte nichts, nicht einmal Wut auf den Mann, der ihm seine Jugendliebe geraubt hatte. Sein Herz war leer und empfand nichts für die beiden Verstorbenen, die er kannte.

Laut öffnete sich die Tür und Cosette, eine der Ballettmädchen der Opéra platzte lachend herein und schlang ihre schlanken Arme um seinen Hals. Gedankenverloren legte er die Zeitung beiseite und ließ sich von dem jungen Mädchen verwöhnen, während seine Frau in Biarritz weilte, wie jeden Frühling. Ja, er hatte ein wirklich angenehmes standesgemäßes Leben, dachte er sich und genoss seine kleine Mätresse.  


- Fin -


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