XVII. Bittersüß
Christine machte sich große Sorgen, Erik verlor so viel Blut und sie bekam die Wunde einfach nicht gestillt. Sie merkte, dass die Bauarbeiter Raoul im Raum festhielten und sie spürte seinen kalten Blick auf sich ruhen. Warum hatte er das getan, warum hatte er nicht einfach akzeptieren können. Aber sie machte sich auch selbst Vorwürfe, vielleicht wäre alles anders gekommen, hätte sie Raoul gegenüber mit offenen Karten gespielt. Sie seufzte schwer und presste ein neues weißes Tuch gegen Eriks linke Schulter.
"Christine.", kam es röchelnd von der Couch. Erik war erwacht und blickte nun schweißgebadet in ihr liebliches Antlitz.
"Schschh... Du musst dich schonen, mein Engel.", sagte sie sanft und unterdrückte die aufsteigenden Tränen.
Erik ließ seinen fiebrigen Blick durch den Raum schweifen und entdeckte den Vicomte, der von den Bauarbeitern in einem eisernen Griff gehalten und von dem Polizisten ausgefragt wurde. Doch Raoul schwieg beharrlich und starrte ihn nur kalt an.
"Lassen Sie ihn gehen.", kam es kraftlos über Eriks Lippen. "Ich denke wir sind quitt, Monsieur le Vicomte. Gehen Sie zurück nach Europa."
"Sir, so geht das aber nicht.", protestierte der Polizist.
"Bitte, ich war ihm gegenüber in Paris nicht besser, nun sind wir quitt. Bitte lassen Sie den jungen Mann gehen."
Dem Polizisten war nicht wohl bei der Sache, wollte sich aber auch nicht dem Wunsch des Verletzten entgegenstellen, denn irgendetwas sagte ihm, dass er unter anderen Umständen sein Verlangen auch anders durchsetzen würde. Schweren Herzens deutete der Polizist die Männer, den jungen Mann los zu lassen.
Raoul schaute den Polizisten arrogant an und rieb sich die schmerzenden Handgelenke. Er wollte gerade etwas sagen, als sich der Polizist wieder zu ihm umdrehte.
"Sie können froh sein, dass ich dem Wunsch des Herrn nachkomme, unter anderen Umständen wären sie jetzt arretiert und ihnen würde die Todesstrafe drohen.", erklärte der Polizist in einem kühlen Ton. "Sie sollten jetzt gehen, am besten fahren sie noch heute zurück."
"Christine!", sagte Raoul in einem fast befehlenden Ton, worauf sich die Angesprochene umdrehte und ihn mit hasserfülltem Augen ansah.
"Nein, ich bleibe hier, bei Erik. Ich gehöre zu ihm.", antwortete Christine energisch und mit fester Stimme. "Ich habe einmal in meinem Leben für mich entscheiden lassen, nun entscheide ich selber und ich bleibe hier, bei Erik.", sagte sie und blickte Erik liebevoll an.
"Wie du willst, aber du brauchst nicht angewinselt zu kommen, wenn du ihn über hast.", meinte Raoul abschätzig.
"Oh, Raoul. Ich werde ihn niemals über haben, dazu ist er zu einzigartig.", sagte sie zärtlich und hatte dabei nur Augen für Erik, der wieder zu schlafen schien.* * *
Raoul stand an der Reeling seines Schiffes, sie hatten gerade abgelegt und nun wurde ihm klar, das er abermals sein Leben diesem Monster zu verdanken hatte, doch diesmal hatte er Christine für immer verloren. Der Polizist hatte ihn zum Hafen gebracht, nachdem der Arzt eingetroffen war und sich äußerst besorgt über den Mann gebeugt hatte, der ihm Christine gestohlen hatte. Er fragte sich was er nun machen sollte und entschied zurück nach Paris zu gehen. Er würde seinen Bruder um Verzeihung bitten, seinen dummen Fehler einsehen und wieder seinen Platz in der französischen Gesellschaft einnehmen und ein standesgemäßes Leben führen.
Lange noch schaute er der Stadt nach, in der er seine Jugendliebe verloren hatte und fragte sich immer noch, was geschehen war, dass sie sich so sehr verändert hatte, er konnte einfach nicht verstehen, warum sie aufgehört hatte ihn zu lieben. Was hatte dieses Monster was er nicht auch hatte. Hatte er nicht viel mehr als diese Ausgeburt der Hölle.
* * *
Ängstlich schaute Christine dem Arzt zu, als dieser das blutgetränkte Seidenhemd Eriks aufriss und die Wunde begutachtete. Er musste feststellen, das sein Patient, zusätzlich zu der nicht ungefährlichen Schussverletzung, auch noch fieberte und ordnete daher Christine an kaltes Wasser und ein Tuch zu holen, um die Stirn zu kühlen. Völlig ruhig holte sie die geforderten Dinge und löste Eriks Maske, um ihm die Stirn zu kühlen. Wenn der Arzt über Eriks Gesicht erschrocken war, so wusste er es gut zu verbergen, denn nicht eine Miene verzog er, als seine Augen einen Blick darauf erhaschten. Nach wenigen Sekunden war sein Blick wieder auf die Wunde gerichtet, als sei alles vollkommen normal. Mit ruhigen Fingern, setzte er das Skalpell an, um die Kugel, die offenbar das Herz gestreift hatte, zu entfernen. Inständig hoffte der Arzt, dass die Kugel nicht das Herz getroffen hatte, denn dann bestünde kaum eine Hoffnung auf Rettung.
"Nein.", stöhnte der Arzt, als das was er befürchtet hatte, wirklich sichtbar wurde. Die Kugel hatte das Herz zwar verfehlt, jedoch leicht gestreift. Vorsichtig, zog er die Kugel heraus und war darauf bedacht, nicht noch mehr Schaden anzurichten. Nach zwei Stunden, war die Wunde genäht und verbunden.
"Er braucht viel Ruhe, junge Dame. Aber ich kann ihnen keine Garantie geben, dass er die Nacht überstehen wird. Und vor allem müssen Sie das Fieber senken, wenn es über Nacht nicht sinkt, werden seine Überlebenschancen gen Null sinken.", sagte der Arzt zum Abschied. Er hatte schwer darum gekämpft, das Leben des Mannes zu retten, den die feine Gesellschaft der Stadt als Architekten schätzte. Die Verletzung war schwerwiegend gewesen, die Kugel hatte das Herz gestreift und er hatte in einer mehrstündigen OP die Kugel entfernen müssen. Auch war der Blutverlust so gravierend, dass er dem Mann kaum Überlebenschancen gab.
Christine nickte nur müde und schloss dann hinter dem Arzt die Tür und blickte traurig zu Jules Bernard hinüber.
"Ich bleibe, sollten sie mich brauchen, Mademoiselle. Ich werde nur schnell meiner Frau eine Nachricht zukommen lassen."
Doch Christine hörte nicht mehr zu, ihre Gedanken waren allein bei Erik. Sie ging nach oben und setzte sich an sein Bett und betete für ihn. Gedankenverloren hielt sie seine kühle Hand zwischen ihren Händen und hauchte unzählige Küsse darauf. "Bitte lass mich nicht allein.", flüsterte sie unaufhörlich von Tränen begleitet.
Erik war in einen tiefen Fieberschlaf gefallen und durchlitt die Qualen seines Lebens von neuem. Er versuchte sich im Schlaf mit seinen Füßen zu wehren und flehte darum, dass man ihn nicht länger ausstellen möge wie ein Tier.
Christine riss entsetzt die Augen auf, als sie Eriks unfreiwillige Beichte über die Leiden seines Lebens hörte. Sie musste mit anhören, wie Erik in seinem Fieberwahn Dinge preisgab, die er ihr wahrscheinlich nie hätte erzählt. Erik gab seine Gedanken preis, als Javert ihn beinah vergewaltigt hätte und Christine wäre bei diesem Geständnis beinah zurückgewichen, so sehr widerte es sie nun an, was Menschen ihm angetan hatten. Und dann musste sie Zeugin werden, wie er im Schlaf den ersten Mord gestand. Leise Tränen rannen über ihr liebliches Gesicht, Tränen, die sie nie vergossen hätte, hätte ihr Erik heute Nacht nicht gesagt, was er durchlitten hatte.
"Mein armer Engel, was musstest du erleiden. Kein Wunder, dass du wurdest, was du warst.", flüsterte sie zärtlich, als Erik sich scheinbar beruhigte und ehe auch sie in einen erschöpfenden Schlaf fiel. Ihr Kopf ruhte auf seinem Bauch und hob und senkte sich im Rhythmus seines Atems.
Vier Tage lag Erik im Delirium und kämpfe um sein Leben, der Arzt hatte die Hoffnung schon aufgegeben und hatte Jules geraten, bereits den Sarg zu bestellen, doch Christine wollte davon nichts wissen und flehte Erik unaufhörlich an, weiter zu kämpfen und bei ihr zu bleiben. Sie wollte nicht das es jetzt so endete, das durfte es einfach nicht, so grausam konnte Gott nicht sein. Nicht eine Sekunde wich sie von Eriks Seite. Wie eine Ordensschwester glitt sie lautlos durch Eriks Schlafgemach und umsorgte ihn, so gut es ihr möglich war.* * *
Die Sonne blinzelte durch die schweren Vorhänge und weckten Erik aus einem bizarren Traum. Er spürte, den feuchten Lappen auf seiner Stirn und wollte danach greifen, als er jedoch davon abgehalten wurde.
"Nicht, Monsieur, sie haben noch immer Fieber.", erklang die eingeschüchterte Stimme Minettes, die vor kurzem Jules von der Nachtwache abgelöst hatte, nachdem sie es geschafft hatte, Christine dazu zu bewegen, sich endlich auch etwas Ruhe zu gönnen. Fast wäre sie an Eriks Krankenbett vor Erschöpfung zusammengebrochen, erst da hatte sie eingewilligt wenigstens etwas zu schlafen und selbst dann wollte sie noch bei ihm bleiben.
Erik erstarrte, als er bemerkte, dass er keine Maske trug und es wurde nicht besser, als er den Verband an seiner linken Schulter bemerkte. "Was ist geschehen?", fragte er mit schwacher Stimme.
"Der Vicomte de Chagny hatte auf Sie geschossen, als Mademoiselle Christine nicht mit ihm gehen wollte. Sie haben ihn dann fortgeschickt, Mademoiselle Christine blieb jedoch bei Ihnen, sie schläft noch immer. Die ganzen letzten Tage, hat sie sich um Sie gekümmert und Gott angefleht sie überleben zu lassen.", meinte das Mädchen und schielte zu Christine, die noch immer an Eriks Bett saß und schlief.
"Könnten Sie mich bitte allein lassen, Mademoiselle.", bat Erik schwach und konnte seinen Blick nicht von Christine wenden.* * *
Eine ganze weitere Woche hatte er im Bett bleiben müssen, umsorgt von seinem Engel. Doch nun zwei Monate nach dem Attentat des Vicomtes auf ihn, stand er vor einem Priester, der ihn soeben eine Frage gestellt hatte, von der er nie geglaubt hatte, sie jemals zu hören. Wie automatisch hatte er Ja gesagt und nun lauschte er Christines himmlischer Stimme, wie sie ihr Ja hauchte.
"... bis das der Tod Euch scheidet."
Die letzten Worte des Priesters klangen ebenso unglaublich, wie alles andere. Von nun an gab es nichts auf dieser Welt, das sie trennen konnte außer der Tod.
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