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XVI. Reue oder Rache?

Wütend fuhr Raoul zum Hafen zurück und konnte immer noch nicht glauben, dass er tatsächlich die Verlobung mit Christine gelöst hatte, dazu noch vor Eriks Augen, warum hatte er sich nur nicht unter Kontrolle halten können. Mit seiner geballten Faust schlug er immer wieder gegen die Tür und schmollte vor sich hin. Er war wütend auf Christine, wütend auf sich, einfach auf alles und jeden. Nach einer guten halben Stunde Fahrt, erreichte er wieder den Hafen, seine Laune war jedoch nicht besser und sie wurde schlechter, als er erfahren musste, dass sein Schiff erst in vier Tagen würde wieder auslaufen können. Raoul war nun gezwungen sich in dieser verdammten Stadt ein Zimmer zu nehmen. Am liebsten wäre er sofort ausgelaufen, je schneller, desto besser, dann könnte er vergessen und wieder nach Hause fahren, zurück nach Paris. Also suchte er sich das beste, was er finden konnte und zog sich auf sein Zimmer zurück und verfiel in seine Erinnerungen an seine Kindheit mit Christine. Er fragte sich, wie nur geschehen konnte, das Christine sich derart verändert hatte.

Es wurde Abend und Raoul saß noch immer in seinem dunklen Hotelzimmer und konnte es einfach nicht fassen, das Christine ihn abgewiesen und gedemütigt hatte. Er würde es nicht so einfach hinnehmen, das er Christine wirklich an dieses Ungeheuer verloren haben sollte. Weshalb er beschloss gleich am nächsten Morgen wieder zu Erik zurückzufahren und Christine zurückzuholen, schließlich konnte er nicht einfach so aufgeben, denn diese Schmach konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Er würde sie zurückholen, mit ihr nach England zurückkehren, sie heiraten und sie würde mit ihm Leben, egal wie, jedoch würde er nicht zulassen, dass Christine hier in New York blieb und man sich in London und Paris über ihn das Maul zerriss und sich über ihn lustig machte, dass er nicht in der Lage war, eine Frau zu halten.

* * *

Es war früher Nachmittag, für gewöhnlich eine Zeit zu der Erik vor architektonischen Ideen sprudelte, doch heute stand er in der Tür zum Salon und betrachtete seine geliebte Christine, wie sie friedlich schlief. Der Schlag von Raoul hatte sie hart getroffen und ihre Wange war noch immer von etwas rötlicher Farbe. Erik verlor sich in ihrem lieblichen Anblick und genoss es still, Christine bei sich zu wissen. Jules hatte er bereits vor geraumer Zeit wieder in die Stadt geschickt um das Mädchen, das Christine begleitet hatte und ihr Gepäck zu holen.

Jules fuhr gerade in Begleitung des jungen Mädchens vor, als Ayesha munter wurde und in die Halle rannte. Erik wunderte sich über das Verhalten seiner Katzendame, die gewöhnlich alles auf sich zukommen ließ, und folgte ihr. Die große schwere Eingangstür war einen Spalt geöffnet und hindurch schlängelte sich ein kleines cremefarbenes Bündel. Erstaunt kniete sich Erik zu dem kleinen Geschöpf hinunter und lockte es an, als seine Ayesha neugierig um die fremde Katze tapste und sie neugierig beschnupperte.

"Ich habe sie Ayesha genannt, weil ich glaubte, dich nie wieder zu sehen.", ertönte eine leicht verschlafene doch zauberhafte Stimme hinter Erik.

Christine war erwacht, als die Droschke auf dem Kies vorgefahren und Erik in die Halle gegangen war.

"Engel, du bist wach.", begrüßte er sie freudig und ging auf Christine zu. Eigentlich wollte er sie umarmen, doch er wusste nicht, ob er durfte und so blieb er scheu vor ihr stehen und freute sich einfach nur, sie wieder zu sehen. Doch Christine konnte nicht länger an sich halten und umarmte Erik leidenschaftlich.

Für beide schien die Zeit stehen zu bleiben, als sie den anderen so nah spürten. Es war ihnen so, als würden sie auf Wolken schweben und in der Ferne schienen Geigen die süßesten Liebesmelodien zu spielen. Tränen rannen über ihren Gesichtern vor Glück und sie waren sich sicher, nie wieder würden sie einander gehen lassen.

"Oh, Erik, bitte vergib mir. Vergib mir.", schluchzte Christine an seiner Schulter, ehe sie ihn mit verweinten Augen ansah.

"Christine. Es gibt nichts was ich dir verzeihen müsste, schließlich habe ich dich mit ihm fortgeschickt. Wenn jemand um Vergebung bitten müsste, dann bin ich das.", entgegnete Erik mit brüchiger Stimme und strich ihr zärtlich durch ihre braunen Locken.

Ein Räuspern von der Tür, riss die beiden Verliebten aus ihrer Umarmung.

"Minette.", rief Christine freudig aus, als sie das Mädchen erblickte, das sich schüchtern in der eleganten Eingangshalle umschaute.

"Mademoiselle, schön das es euch gut geht.", entgegnete sie und grüßte den ihr fremden Mann höflich.

"Minette, dies ist Erik. Ich habe dir doch von ihm erzählt."

"Ja, ich erinnere mich.", sagte sie, von Eriks imposanter Erscheinung, eingeschüchtert.

"Nun, Mademoiselle, wenn sie sich an meiner Anwesenheit nicht stören, bin ich gern bereit, sie in meinen Diensten aufzunehmen.", meinte Erik kühl aber freundlich.

Nun war es Christine die überrascht war, damit hatte sie nicht gerechnet.

"Auch ich kann mich ändern, Liebling.", flüsterte er Christine ins Ohr und bat Jules, dem Mädchen zu zeigen, wo sie schlafen könnte und trug Christines Gepäck selber auf ihr Zimmer.

* * *

"Erik?"

"Ja, was ist Christine."

Christine stand verlegen am Flügel und begutachtete das herrliche Instrument. "Du hast dir ein wundervolles Heim geschaffen.", meinte sie abwesend und tippte eine der Tasten der Klaviatur an.

"Danke. Aber was hast du wirklich auf dem Herzen." Er spürte, dass sie etwas bedrückte und hoffte inständig, dass es ihr gut ging. Erik hörte, wie sie tief einatmete, als müsse sie jeden Augenblick, das Geständnis ihres Lebens ablegen.

"Erik, ich habe... wie soll ich das bloß sagen. Ich habe... . Ich kann nicht."

"Christine, Engel, was hast du nur. Du kannst mir alles sagen. Ich verspreche dir, dass ich ruhig bleibe und dir nichts tue."

Bei seinen Worten schaute Christine ihn erschrocken an, er ihr etwas tun, wie kam er nur darauf, dachte sie sich. Längst hatte sie seinen Wutausbruch vergessen, als er sie das letzte Mal in die Katakomben der Oper entführt hatte.

Noch einmal atmete sie tief ein. "IchhabemitRaouluntereinemDachgewohnt,aberesistnichtsgeschehen.Dasschwöreichdir.", sprudelte es aus ihr hervor, so dass Erik kaum ein Wort von dem verstehen konnte, was sie ihm gerade gesagt hatte.

"Engel, Engel, nicht so schnell. Ich habe ja gar nichts verstanden, außer dem Namen des Vicomtes. Bitte noch mal ganz langsam. Was ist mit dem Vicomte?", fragte er sie liebevoll und hielt ihre Hand, worauf sie sich etwas beruhigte.

"Ich habe nichts getan.", meinte sie mit gesenktem Blick.

"Das weiß ich doch, aber was hat das mit dem Vicomte zu tun?", wollte er irritiert wissen.

"Ich habe doch bei ihm gewohnt. Unter einem Dach mit einem Mann, ohne mit ihm verheiratet zu sein. Aber es ist nichts geschehen.", sagte sie unschuldig und erst da ging Erik ein Licht auf, was sie ihm hatte sagen wollen.

"Christine, du bist mir doch keine Rechenschaft schuldig, alles was zählt, ist das du hier bist. Ich würde dir auch nicht böse sein, wenn etwas geschehen wäre."

"Wirklich nicht?"

"Nein."

Erleichtert atmete Christine auf und begann gedankenverloren das letzte Duett aus Gounods "Marguerite" zu spielen. Leise summte sie vor sich her und bemerkte gar nicht, wie Erik in ihre Melodie einstimmte. Er war so glücklich wieder ihre Stimme zu hören und ihren lieblichen Duft einatmen zu dürfen und er war umso glücklicher, dass sie sich überhaupt nicht fürchtete in seiner Gegenwart. Erik hatte sogar das Gefühl, dass sie seine Nähe genoss. Glücklich schloss er seine Augen und lauschte ihrem Spiel.


* * *

Christine erwachte am nächsten Morgen in ihrem Schlafzimmer und schaute sich irritiert um. Zuerst dachte sie, sie hätte alles nur geträumt, doch als ihre kleine Ayesha plötzlich auf ihrem Schoß herumtapste und gleich daneben eine größere Siamkatze zusammengerollt lag, da wusste, sie dass das alles kein Traum gewesen ist. Freudig kletterte sie aus dem Bett und kleidete sich hastig an, so als fürchte sie, alles könne sich in Luft auflösen. Als sie die Tür ihres Zimmers öffnete, drang eine himmlische Musik zu ihr herauf, es war ganz offensichtlich zu hören, das Erik glücklich und zufrieden war mit seinem Leben.

Christine versank in seinem Spiel auf der Orgel und lauschte ihm, als es plötzlich laut an der Eingangstür pochte. Verwundert ging sie hinüber und öffnete sie einen Spalt und erschrak, als sie Raoul davor sah. Dieser reagierte blitzschnell, griff nach ihrer Hand und zog sie zu sich nach draußen.

"Lass mich los, Raoul.", sagte sie laut.

"Das werde ich nicht, du bist mit mir verlobt und du wirst mich gefälligst heiraten.", beharrte er auf sein Anrecht.

"Du bist ja verrückt. Lass mich." Christine versuchte sich aus dem harten Griff von Raoul zu befreien, doch es gelang ihr nicht. "Hilfe!", sie schrie laut und hoffte, irgendjemand würde sie hören und ihr helfen. Die Bauarbeiter, die noch im Garten zu tun hatten, hörten sie nicht, doch Erik war von dem Klang ihrer Stimme aufgeschreckt und eilte nun nach draußen.

"Ich denke, Christine hatte sie um etwas gebeten, Monsieur le Vicomte.", donnerte Eriks kalte Stimme von der Treppe herunter, die er bedrohlich herunterschritt.

"Sie gehört mir.", fauchte Raoul zurück und ich werde sie mit mir nehmen und sie wird mich heiraten.

"Nun, Monsieur le Vicomte, es scheint offensichtlich, dass sich Christine anders entschieden hat.", entgegnete er Raoul sarkastisch und hatte nur ein spöttisches Lächeln für den jungen Mann übrig.

"Christine, bitte sage diesem Monster, dass du bei mir bleiben willst.", verlangte Raoul kühl und ließ sie los.

Christine rieb sich ihr schmerzendes Handgelenk und eilte zu Erik hinüber und flüchtete sich in seine Arme.

"Nein, Raoul, ich will nicht bei dir bleiben, ich bleibe bei Erik, ob es dir nun passt oder nicht. Ich möchte dich bitte, mich nicht mehr zu behelligen.", sagte sie kühl und wandte sich um und ging.

Für Raoul brach eine Welt zusammen, all seine Wut wuchs in ihm und als ob er es geahnt hatte, zog er seine Pistole, zielte auf Erik und traf ihn in die Brust.

"Erik." Ein markerschütternder Schrei durchlief das Anwesen und alarmierte alle Bauarbeiter und auch Jules, der gerade das Grundstück betreten hatte. Christine beugte sich über Erik und versuchte die Blutung zu stoppen, während die Bauarbeiter geistesgegenwärtig den Vicomte packten und ihm die Hände banden.

Raoul wehrte sich gegen den Griff, doch gegen vier kräftige Männer hatte er keine Chance. Jules rannte zum Eingang und rief nach dem Polizisten der gerade vorbeigekommen war und schickte eine Droschke einen Arzt zu holen.

Raoul wurde festgenommen und Christine und Jules trugen Erik in den Salon, wo sie ihn auf die Couch legten und versuchten die Blutung zu stoppen. Panisch blickte Christine auf die vielen Tücher, die voller Blut, voll Eriks Blut waren.





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