I. Freiheit
A/N: Februar 1882
Tief in Gedanken saß, sie wie eine Puppe vor ihrem Frisiertisch und starrte auf die silberne Bürste in ihrer Hand, die immer und immer wieder dieselbe Haarsträhne bürstete, so als könne sie nur diese eine Handbewegung ausführen. Seit gestern früh war sie in Raouls Haus, in einem der Gästezimmer, untergebracht und war frei. Nun brauchte sie nicht mehr zu fürchten, jemals wieder in die Unterwelt hinab zu müssen, sie war frei für ein Leben im hellen Sonnenlicht.
Er hatte sie gehen lassen, einfach so. Er hatte sie einfach so mit Raoul fortgeschickt und hatte ihnen beiden auch noch alles Glück dieser Welt gewünscht. Sie hatte nicht verstanden, wieso er das tat, aber er hatte es getan. Einfach so. In Gedanken kehrte sie immer wieder an jenen dunklen Ort zurück, der ihr so viel Angst gemacht hatte, der ihr aber auch viele schöne Stunden beschert hatte, viele unvergessliche Stunden mit ihrem Engel und nun sollte alles vorbei sein. In wenigen Wochen würde sie ihren geliebten Raoul heiraten und sie würden gemeinsam Paris verlassen und irgendwo auf dem Land in Frieden leben. Sie würde vergessen, was in dem vergangen Jahr geschehen war, sie würde einfach nicht mehr daran denken.
Ein leises Klopfen an ihrer Tür riss Christine aus ihren Gedanken, an das warum. Minette, eines der Stubenmädchen brachte ihr ein kleines Frühstück und eine Nachricht von Raoul.
Mein Liebes,
bitte vergib mir, dass ich heute Morgen nicht bei Dir sein kann, aber ich habe noch einige Besorgungen zu tätigen. Ich werde so schnell wie möglich zu Dir zurück eilen, mein Engel. Wenn ich wieder bei Dir bin, habe ich eine kleine Überraschung für dich.
In Liebe Raoul.
Christine seufzte und versuchte eine Kleinigkeit zu essen, doch irgendwie hatte sie keinen Hunger, obwohl sie sonst nie ohne Frühstück den Tag beginnen konnte, bekam sie heute nicht einen Bissen herunter.
"Mademoiselle, ist alles in Ordnung?", fragte Minette, eines der Stubenmädchen, dass Christines Kammerzofe geworden war, besorgt. Ihr Herr hatte sie damit beauftragt auf die junge Frau aufzupassen und dafür zu sorgen, dass es ihr in seiner Abwesenheit an nichts fehlte. Es wunderte Minette, das sie nichts zu sich nahm, immerhin war sie gestern in den frühen Morgenstunden vom Vicomte hergebracht worden und hatte seitdem nur geschlafen und müsste jetzt eigentlich mehr als hungrig sein.
Christine reagierte nicht, sie war geistig völlig abwesend. Sie nahm sich ein paar Weintrauben und ging hinüber zum Fenster und schaute unbewegt in den Garten hinab, der sie ein wenig an den Bois de Boulogne erinnerte und damit an jenen Spaziergang mit Erik, bei dem sie Raoul und seinen Freunden begegnet waren. Wieder einmal war sie allein in einem fremden Haus, doch sie fühlte sich nicht wohler, als beim letzten Mal, als sie allein in Eriks Haus gewesen war. Sie fragte sich warum, sie sich so unbehaglich fühlte, immerhin war hier alles normal, es gab Fenster, durch die das Tageslicht eindrang, es gab Türen, die ohne geheimnisvolle Mechanismen geöffnet werden konnten, es gab Besucher, die ein und aus gingen und vor allem gab es hier geschäftiges Treiben, es war nicht so totenstill, wie bei Erik. Warum also fühlte sie sich unwohl?
Sie verstand sich selbst nicht mehr, eigentlich sollte sie zufrieden und glücklich sein, doch irgendetwas belastete ihre Seele und sie wusste nicht was sie bedrückte. Raoul hatte sie doch aus den Fängen eines Verrückten gerettet, der bereit gewesen war, zwei Menschen sterben zu lassen, sollte sie sich nicht dazu entscheiden, bei ihm zu bleiben. Warum fühlte sie sich nur so schlecht, wie schon lange nicht mehr.
"Mademoiselle?"
Abrupt drehte sich Christine zu dem Stubenmädchen herum.
"Es ist nichts.", versicherte sie Minette und bat sie, sie für einen Moment allein zu lassen. Minette tat, wie ihr befohlen, auch wenn ihr ein wenig mulmig war und sie lieber geblieben wäre.
Christine atmete tief durch, als sie dann doch aufstand und in das Badezimmer hinüber ging, um sich anzukleiden.
"Nein. Ich werde mich von ihm nicht schon wieder gefangen nehmen lassen.", sagte sie mit lauter und fester Stimme zu sich selbst und blickte ihr Spiegelbild an, als könne sie sich so endgültig von ihm befreien. Eine halbe Ewigkeit starrte sie in den Spiegel, ehe sie sich daran erinnerte, dass Raoul etwas von einer Überraschung geschrieben hatte. Bei diesem Gedanken bekam sie wieder gute Laune und ging summend in ihr Zimmer zurück, um sich anzukleiden.
Raoul musste am gestrigen Tag ihre gesamte Garderobe aus ihrer kleinen Wohnung hierher gebracht haben, denn all ihre Sachen hingen ordentlich auf kostbaren Zedernholzbügeln. Als sie eines der Kleider herausnahm, übermannte sie wieder die Erinnerung an ihren Kleiderschrank bei Erik, der gefüllt war, mit exquisiten Kleidern, die er für sie hatte anfertigen lassen. Er hatte sich so viel Mühe gegeben, damit sie sich bei ihm wohl fühlte und sie hatte es ihm nicht einmal richtig gedankt. Eine einsame Träne rann über ihr Gesicht und sie rang sich ein Lächeln ab, bei dem Gedanken an ihren Verlobten, er war der einzige, der sie von den Erinnerungen an Erik befreien konnte. Sie fragte sich, wieso Erik plötzlich so dominant war in ihren Gedanken, früher war das nie so gewesen, warum also gerade jetzt, wo sie gegangen war?
"Raoul.", flüsterte sie verträumt in den Raum, um Erik endgültig aus ihrem Kopf zu wischen.
"Christine." , kam es nicht weniger geflüstert von der Tür zurück. Christine hatte nicht bemerkt, dass ihr Liebster schon wieder zu Hause war. Beinah stürmisch eilte sie auf ihn zu und umarmte ihn freudig.
Raoul war froh, seine Liebste bei so guter Verfassung zu sehen, er hatte befürchtet, sie würde ein wenig apathisch wirken, immerhin hatte sie gestern regungslos am Kamin gesessen und unaufhörlich in die Flammen gestarrt, während ihr Zimmer hergerichtet worden war. Sie hatte gewirkt, als würde sie nicht einmal wissen, wo sie war. Sie wirkte so abwesend, dass er mit dem Schlimmsten gerechnet hatte, aber nun, wo er sie scheinbar so glücklich sah, verflogen all seine Sorgen.
"Ich habe eine kleine Überraschung für dich im Kaminzimmer.", sagte er sanft und führte sie hinunter.
Christine traute ihren Augen nicht, als sie das Kaminzimmer betrat. Auf einem großen roten Samtkissen saß in einem kleinen Körbchen eine Katze, so viel konnte sie von der Tür aus sehen, mit einem cremefarbenen kurzen Fell. Sie eilte auf das Tier zu und wollte es auf den Arm nehmen. Als sie vor dem Körbchen niederkniete, drehte sich die Katze um und Christine blickte in ein dunkles Gesicht mit strahlend blauen Augen.
"Ayesha.", sagte sie etwas atemlos, als dieses Kätzchen sie ansah. Unweigerlich musste sie an Eriks eigene Katze denken, die genauso aussah, wie dieses Kätzchen, das nun vor ihr saß und sie freudig anmauzte.
"Ein wunderschöner Name.", meinte Raoul, nichts ahnend, das sein größter Rivale auch eine solche Siamkatze besaß. Christine fing sich rasch, denn sie wollte Raoul auf keinen Fall ängstigen. Er kam auf sie zu und setzte sich neben sie und begann das kleine mauzende Bündel in Christines Arm zu kraulen.
"Ich dachte, sie würde dir gefallen und dir ein wenig Gesellschaft leisten, wenn ich außer Haus bin, um unsere Hochzeit und auch unsere Abreise nach England zu organisieren."
"Danke, Raoul, sie ist wunderschön.", sagte sie mit merkwürdiger Stimme, sie hatte das kleine Bündel sofort in hier Herz geschlossen auch wenn sie nun ständig etwas hatte, was sie an Erik erinnern würde. Raoul musste Eriks Ayesha nicht gesehen haben, denn sonst hätte er ihr niemals eine solche Katze geschenkt, da war sie sich sicher. Sie erinnerte sich, das selbst sie Ayesha an jenem Abend nirgends gesehen hatte. Raoul nahm sie liebevoll in den Arm und vergrub sein Gesicht in ihren braunen Locken, während sie tief versunken in Gedanken ihre kleine Ayesha streichelte.
Er hatte für sie mit seiner Familie gebrochen, die diese Heirat niemals akzeptieren würde, sein Bruder hatte ihn des Hauses verwiesen. Hatte der Comte seinem kleinen Bruder sonst alle Freiheiten gelassen, konnte er es nicht so weit kommen lassen, das eine Opernsängerin Vicomtesse de Chagny werden würde und die restlichen Verwandten sahen das genauso, von der feinen Gesellschaft einmal abgesehen, die darüber ebenso die Nase rümpfen würden. Die Hochzeit musste schnell arrangiert werden, in spätestens acht Wochen sollte die Hochzeit stattfinden, und auch ihre Abreise. Er würde sie nicht nur aufs Land bringen, sondern auch weg von Frankreich, er glaubte, die Gefahr sei zu groß, dass es sich dieses Ungeheuer noch einmal anders überlegen könnte und Christine wieder entführen würde. Er hatte auch schon ein kleines Anwesen in der Nähe von London gefunden, dass nicht zu groß war, aber auch nicht zu klein, immerhin stand ihm einiges Geld zur Verfügung. In Gedanken malte er sich schon ihr gemeinsames Leben aus, das sie führen würden. Er würde als Partner eines großen Handelsunternehmens, das einem Freund von ihm gehörte, arbeiten können, während Christine sich mit den Damen der Gesellschaft treffen konnte. Es würde vielleicht nicht so aristokratisch sein, wie bisher, aber das war ihm egal, es war ein annehmbares Leben und mit Christine hatte er ein Juwel an seiner Seite, um das ihn einige in England beneiden würden.
"Ich hoffe, du wirst nichts gegen eine schlichte Hochzeit haben, Liebes.", begann Raoul die Stille zu durchbrechen.
"Nein, selbstverständlich nicht, Raoul.", sagte sie und schaute ihn liebevoll an.
"Du siehst müde aus.", meinte er, als er die Schatten um ihren Augen sah, die bei genauer Betrachtung deutlich zu sehen waren. Die Ereignisse der vorletzten Nacht, waren doch nicht so spurlos an ihr vorüber gegangen, wie er zuerst angenommen hatte.
"Ich bin auch noch ein wenig müde, obwohl ich seit gestern Vormittag durchgeschlafen habe.", Christines Stimme klang resignierend, so als würde sie befürchten, sie wäre von nun an immer so müde.
"Du musstest viel durchmachen Liebes, da ist es verständlich, dass du müde bist. Du solltest dich ein wenig ausruhen, ich muss sowieso noch einmal los und einige Vorkehrungen treffen für unsere Hochzeit und auch für unsere Abreise.", sagte er und brachte sie auf ihr Zimmer, wo sie sich auf die Chaiselonge legte, um ein wenig zu schlafen. Ayesha, rollte sich auf ihrem Schoß zusammen und tat es ihrer Herrin gleich. Raoul hauchte noch einen Kuss auf Christines Stirn bevor er ging.
Christine fand jedoch keinen Schlaf, denn die Gedanken, die sie schon am Morgen gequält hatten, kamen wieder zu ihr zurück. Sie fühlte sich auf eigenartige Weise schuldig und ihr Gewissen hielt ihr das auch immer wieder vor. Sie hatte einen einsamen Mann, der sich doch nur nach ein wenig Liebe gesehnt hatte einfach so verstoßen. Er hätte sie nicht einmal angerührt, dass wusste sie, und doch hatte sie ihn allein zurückgelassen, wohlwissend, dass er diese Einsamkeit mit dem Tod bezahlen würde. Sie hatte den Tod eines anderen Menschen zu verantworten, sie wusste, wenn sie in zwei Monaten zu ihm zurückgehen würde, um die Einladung zu überbringen, würde sie sein Todesurteil besiegeln.
Sie hatte nie eine richtige Gelegenheit gehabt, über ihre Gefühle wirklich nachzudenken, sie wusste nicht einmal was sie wirklich für ihn empfand. Sie war einfach nur vor eine Wahl gestellt worden, über die sie nicht nachdenken konnte, weil alles so schnell ging und sie nicht wusste, was sie tun sollte. Er war wütend gewesen, so viel stand fest, als er sie vor die Wahl gestellt hatte, und sein ständiger Sarkasmus waren nicht gerade förderlich gewesen, um auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Gewiss er war ihr ein Lehrer, ein Freund und ab und zu auch ein Vater gewesen, doch sie wusste, sie war für ihn mehr als nur eine Schülerin oder eine Tochter gewesen war, das wusste sie spätestens seit er ihr die Geschichte von der Nachtigall und der weißen Rose erzählt hatte:
>Blume und Vogel, zwei Geschöpfe, die nicht dazu geschaffen sind, sich zu verbinden. Doch mit der Zeit überwand die Rose ihre Angst, und aus dieser einzigartigen verbotenen Vereinigung ging die rote Rose hervor, die Allah der Welt nie hatte zeigen wollen.*<
Sie fragte sich, zum ersten Mal, ob sie ihm jemals hätte diese weiße Rose sein können, nach der er sich so gesehnt hatte, ohne es je laut ausgesprochen zu haben. Hätte sie jemals den Mut gehabt, diesen Schritt zu gehen und diese Verbindung eingehen können? Wahrscheinlich nicht, aber hatte sie diesen Gedanken überhaupt einmal zu Ende gedacht, hatte sie sich nicht immer, wenn ihre Gedanken begannen diese Richtung einzuschlagen, verkrochen und hatte sich verboten daran überhaupt zu denken? Und Christine musste sich eingestehen, sie hatte genau so gehandelt, ihre Gedanken unterbrochen, noch bevor sie jene Weite und Tiefe erlangen konnten, die nötig gewesen wären, über ihre Gefühle für ihren Engel der Musik nachzudenken. Sie hatte es sich verboten und Erik gleichzeitig dazu verdammt in der Dunkelheit zu bleiben.
Hatte er nicht immer nur versucht, ihr Herz, ihre Gedanken zu erobern? Hatte er nicht immer nur ihr bestes gewollt? Hatte er sie nicht aus ihrer Trauer um ihren Vater geholt? Er hatte sie behandelt wie eine Heilige, er hatte ihr teure Kleider fertigen lassen, alle persönlichen Gegenstände, waren extra für sie angefertigt worden. Er hatte sich so viel Mühe gegeben, damit sie sich wohl fühlte. Jeden Wunsch hatte er ihr von den Augen abgelesen, er hatte sich um sie gesorgt, wenn es ihr nicht gut ging, er hatte sie gepflegt, als sie krank war. Er hatte alles getan, um nur ein Lächeln von ihr zu erhaschen, ein Augenaufschlag von ihr hätte ihm genügt, ein noch so sachtes Lächeln hätte ihn selig gemacht, jedes liebe Wort wäre ihm, wie eine Fahrt in den Himmel gewesen.
Und was hatte sie getan, sie hatte ihn in der Dunkelheit zurückgelassen, in der Isolation, die schon seine Mutter ihn gelehrt hatte und die er eigentlich so hasste. Leise kullerten Tränen über ihr Gesicht und sie vergrub es in die weichen Kissen, ehe sie weinend in einen traumlosen Schlaf glitt.
*aus Susan Kay "Das Phantom"