II. Dunkelheit
A/N: Zur gleichen Zeit im Unterbau der Opéra
Sie war gegangen und diesmal war es für immer, nicht für ein oder zwei Wochen, wie sonst, es war endgültig für immer. Nie wieder würde sie zu ihm zurückkommen, um bei ihm zu bleiben. Er hatte sie gehen lassen, weil er wusste, sie würde ihn niemals so lieben, wie diesen jungen, attraktiven Mann, der in seine Unterwelt gekommen war, um Christine zu retten. Und weil er Christine so sehr liebte, mehr als er jemals würde sagen können, hatte er sie in ihr Glück gehen lassen. Und obwohl er sie gequält hatte, und doch hatte sie ihn geküsst. Nie würde er diesen einzigen flüchtigen Moment seines Lebens vergessen, der so strahlend war, wie nicht einmal die Sonne den hellsten Sommertag würde erstrahlen lassen können. All die alten Krusten des Hasses, die sich im Laufe seines Lebens um seine Seele und vor allem um sein Herz gelegt hatten, wurden mit diesem einen Kuss gesprengt, als seien sie so zerbrechlich gewesen, wie die Schale eines rohen Eies. In diesem Moment wusste er, er würde sie niemals hier halten können, niemals würde er es ertragen, sie gegen ihren Willen in einer Welt aus Dunkelheit zu halten. Sie war ein Kind des Lichtes und dieses Licht würde er, das Kind der Dunkelheit, ihr nie bieten können. Also hatte er die schwerste Entscheidung getroffen, die er jemals hätte treffen müssen.
"Geh und werde glücklich mit ihm, das ist alles, was ich mir jetzt noch wünsche.", hatte er, vor nicht einmal einem Tag, zu ihr gesagt und hatte Raoul und Christine in die Freiheit entlassen.
Nun war in sein Leben wieder die alte Stille eingekehrt, aus der Christine ihn vor einem guten Jahr gerissen hatte, als er ihre Stimme zum ersten Mal, die Juwelenarie der Margeruite aus Gounods Fausts, hatte singen hören. Damals war er in einen süßen Traum hinab gefallen, aus dem er nun aufgewacht war und sich in der kalten Einsamkeit wiederfand, in der er lebte, bevor dieser Traum über ihn hinweggefegt war, wie ein Sturm über einsames Land.
Jetzt war sie bestimmt glücklich. Sie würde sich zufrieden in ihrem Bett räkeln, sobald sie aufwachte und den Morgen mit einem Lächeln begrüßen. Bestimmt würde er ihr dann das Frühstück ans Bett bringen, er würde sie nicht mehr aus den Augen lassen, vor Sorge, ihr könnte noch einmal irgendwas passieren. Gewiss würde er noch immer befürchten, ihr Engel der Musik hätte sie nicht wirklich gehen lassen, dachte sich Erik und setzte sich seufzend in ihr Zimmer.
Ihre silberne Bürste lag noch immer auf der Schatulle, in der sie sonst immer lag, so als würde sie jeden Augenblick aus ihrem Bad kommen und ihre dichten braunen Locken bürsten, daneben lag der kleine Spiegel mit ihren Initialen. Ihr Parfum lag noch immer in der Luft und nährte seine schmerzlichen Erinnerungen an seinen Engel, von dem er gehofft hatte, er würde ihn endlich von diesem düsteren Leben befreien.
Er sah sie vor sich, wie sie fröhlich lachend mit Raoul durch die Straßen von Paris gehen würde, wie sie ihn verliebt ansehen würde, und sie sich in einem unbeobachteten Moment zärtlich schüchtern küssen würden. Ein stechen in seinem Herzen ließ ihn mehr als deutlich spüren, wie sehr er Christine doch liebte und wie sehr es ihn schmerzte, dass sie ihm nicht einen Hauch seiner Gefühle hatte entgegenbringen können.
"Ich muss lernen, ohne sie zu leben.", sagte er sich resignierend und wollte aufstehen, doch er konnte nicht, ihr Raum schien ihn gefangen zu halten und wollte ihn noch nicht gehen lassen. Ayesha, seine treue Siamkatze kam auf ihn zugerannt und sprang auf seinen Schoß. Ihr kleiner warmer Körper schmiegte sich an ihn und würde, wie schon früher, die einsamen Stunden in der Dunkelheit für ihn etwas erträglicher machen.
Und doch würde es keinen Trost mehr für ihn geben, er war nun fünfzig, was sollte er mit den letzten Jahren seines Lebens anfangen. Nie wieder würde er ihre Stimme hören, die seiner Musik, etwas angenehmes gegeben hatte, ohne sie, würde sein Werk nur noch düster sein. Irgendwann würde sie dann endgültig verstummen und er würde endlich befreit sein von diesem Leben, falls man dies überhaupt Leben nennen konnte. Doch bis dahin würde er es irgendwie schaffen müssen, mit seiner Einsamkeit fertig zu werden. Aber wie, in den letzten Monaten hatte er seine eigene Hoffnung derart genährt, dass es ihm nun nahezu unmöglich schien, ohne Christine zu sein.
Warum nur fiel es ihm auf einmal so schwer allein zu sein, er war sein ganzes Leben lang allein gewesen und nun, nur weil sie wieder aus seinem Leben gegangen war, schien ihm diese Bürde schier unerträglich. Langsam rappelte er sich auf und ging, mit Ayesha im Arm, in sein Zimmer zurück und setzte sich an den Flügel. Er verschränkte seine Finger, ließ sie leise knacken und begann dann einfach irgendwas zu spielen, um diese erdrückende Stille zu bezwingen, die bedrohlich über ihm lastete. Wenn er sich jetzt nicht ablenken würde, würde er sogar das wagen, was er vor wenigen Tagen noch nicht gewagt hätte - Selbstmord.
Erik versuchte seine Trauer aus sich zu spielen, er musste noch mindestens zwei Monate stark genug sein, dann würde sie zu ihm kommen und die Einladung überbringen, um die er die beiden gebeten hatte. Er wusste nicht, wie er reagieren würde und innerlich begann in ihm die Angst zu wachsen, dass er sie einfach hier festhalten würde, für immer.
"Ich sollte Nadir bitten, hier zu sein, wenn sie kommt.", sagte er sich, nur um sicher zugehen, dass er nicht durchdrehen und ihr etwas antun würde in seiner unendlichen Verzweiflung. Panik ergriff ihn, er musste hier raus, und zwar sofort. Hastig warf er sich seinen Umhang über die Schultern, setzte seinen Hut auf, nahm seinen Spazierstock und verließ beinah fluchtartig sein Haus und eilte nach draußen.
Ziellos ging er durch die nächtlichen Straßen von Paris, nachdem er durch die vornehmen Viertel der Stadt gegangen war, wollte er zum Haus des Vicomtes gehen, doch in letzter Minute lenkte er seine Füße in Richtung Rue de Rivoli. Er klopfte an einer einfachen Tür und hoffte, Nadir würde ihn empfangen.
"Sie wünschen, mein Herr?", fragte ein Diener mit stark fremdländischen Akzent.
"Ich möchte mit dem Daroga, sprechen.", erwiderte Erik ruhig und hoffte er würde eingelassen.
"Lassen sie Ihn eintreten.", hörte er die dumpfe Stimme seines ehemaligen Freundes, denn er konnte nicht wirklich hoffen, das ihre Freundschaft, wenn man das, was zwischen ihnen früher einmal war, Freundschaft nennen konnte, noch existiert. Schon gar nicht nach all dem, was er ihm vor knapp zwei Tagen beinah angetan hätte.
"Daroga, ich danke Ihnen, dass sie mich zu so später Stunde noch empfangen.", begrüßte er ihn förmlich aber höflich.
"Erik, es ist schön dich zu sehen. Ich hatte befürchtet, du hättest... .", er sprach nicht aus, was er gedacht hatte und bot ihm lieber einen Sessel an. Er schien als würde er vergessen haben, was geschehen war, zumindest erwähnte er jene Episode vor zwei Tagen mit keinem Wort.
"Was führt dich zu mir?", ganz selbstverständlich hatte Nadir das persönliche Du gewählt und ignorierte die Tatsache, das Erik ihn derart förmlich ansprach, als wären sie Fremde, die sich zufällig über den Weg gelaufen waren.
"Ich möchte Euch um etwas bitten, wenn ich darf.", meinte Erik und schaute den ehemaligen Daroga von Mazendaran fast flehend an.
"Was immer du willst.", entgegnete Nadir knapp und reichte ihm eine Tasse Tee mit Zitrone, so wie Erik seinen Tee immer trank.
"Danke. Es geht um Christine."
"Erik, bitte. Lass sie ihren Frieden finden.", sagte Nadir fast verzweifelt.
Erik sah ihn etwas missbilligend an, wieso dachte Nadir nur immer daran, er könne etwas böses vor haben.
"Sie soll in acht Wochen zurück kommen und mir die Einladung zu ihrer Hochzeit bringen. Ich wollte dich fragen,", nun war auch Erik zum Du übergegangen, "ob du dann bei mir sein könntest. Ich fürchte, ich könnte sonst zum Äußersten gehen, und etwas tun, was ich später bereuen könnte und das will ich verhindern.", sagte er ruhig.
Nadir entspannte sich bei Eriks Worten und nahm die seltene Einladung Erik in seinem Haus zu besuchen erleichtert und dankend an. Er musste sie wirklich lieben, wenn er so um ihre Sicherheit in seiner Gegenwart fürchtete, dachte sich Nadir und nahm einen Schluck von seinem Tee.
"Was wirst du nun tun, wo sie nicht mehr da ist?"
"Ich weiß nicht, komponieren? Vielleicht werde ich wieder mit der Architektur beginnen.", sagte Erik abwesend.
"Warum lässt du deine Musik nicht verlegen, Erik? Sie ist doch meisterhaft, zumindest das, woran ich mich erinnere."
Erik schmunzelte, Nadir erinnerte sich also noch an seine Musik, die er einst in Persien komponiert hatte, wenn er in Nadirs Haus zu Besuch war. Aber das mit dem Verlegen war keine so schlechte Idee. Er schien darüber wirklich nachzudenken, denn er reagierte nicht mehr auf Nadirs Stimme, also entschied sich der Daroga, Erik allein zu lassen und zog sich zum Schlafen zurück. Erik würde ihm das verzeihen, das wusste er, es wäre nicht das erste Mal, dass er sich schlafen legte, während Erik in seinem Haus saß und über irgendetwas nachdachte.
In den frühen Morgenstunden, die Sonne durchbrach bereits das Dunkel der Nacht, ging Erik geduckt, um nicht gesehen zu werden, zur Oper zurück. Er ging an dem Geschäft von Worth(1), in der Rue de la Paix vorbei, wo er Jules einige Kleider für Christine hatte bestellen lassen. Doch sein Blick blieb auf dem Schaufenster eines Juweliers hängen. Hier hatte er Jules gebeten, den Ring in Auftrag zu geben, den er für Christine entworfen hatte. Erstaunlicherweise war das Geschäft schon geöffnet und als er einen Blick in das Innere des Raumes gleiten ließ, erkannte er den Vicomte, der sich einige Ohrringe zeigen ließ, die er ohne Zweifel später Christine schenken würde. Und dann trafen sich ihre Blicke, auch Raoul hatte aus dem Fenster gesehen und Erik sofort erkannt. Hastig entschied er sich für ein exquisites Paar, welches zärtlich gegen Christines schlanken Hals pendeln würde, wenn sie die Schmuckstücke tragen würde, und wollte aus dem Geschäft eilen, doch Erik war schneller, trotz seines Alters.
Er hastete zur Oper, nicht darauf achtend, dass man ihn beobachten könnte und verschwand ungesehen in den dunklen Kellern seines Zufluchtortes. Er wusste Raoul würde ihm niemals hier hinunter folgen, zumindest nicht allein und schon gar nicht unbewaffnet.
Enttäuscht kehrte Raoul in das Geschäft zurück, ließ sich die Ohrringe einpacken und ging nachdenklich nach Hause. Er hatte sich nicht getäuscht, das war Erik gewesen, der vor dem Schaufenster gestanden hatte. Aus einem ihm unbestimmten Gefühl heraus, hatte er mit ihm reden wollen. Er wusste nicht warum, aber er war sich sicher, dass es besser wäre, wenn er Christine von dieser Begegnung nicht erzählen würde, sonst würde sie vielleicht jegliche Kraft verloren. Seit dem sie in seinem Haus war, wirkte sie so verloren, so matt. Sie schlief die Tage durch, als hätte sie die Nächte durchgetanzt. Minette hatte ihm anvertraut, dass sie, Christine nachts gesehen hatte, wie sie schlafwandelnd, durch das Haus und sogar durch den winterlichen Garten, der sich hinter dem Haus erstreckte, gegangen war. Würde er es nicht besser wissen, er hätte geglaubt, Christine sei noch immer von Erik gefangen, und dabei war sie schon seit fast drei Tagen in Freiheit. Sie hatte wenig gegessen und ließ so gut wie niemanden an sich heran. Nur er und die Katze durften sich in ihrer Nähe aufhalten und Minette durfte nur zu ihr, wenn sie ihr Essen brachte. Er machte sich nun doch langsam ernstlich Sorgen um sie, hoffte jedoch inständig, dass es ihr besser gehen würde, je länger sie von Erik getrennt wäre und sobald sie diese Stadt hinter sich gelassen hätten.
A/N: Zur gleichen Zeit wieder in Eriks Wohnung am See
"Der Vicomte wirkte nicht gerade wie das blühende Leben.", sagte Erik zu Ayesha, die sofort auf ihn zugelaufen kam, als er die Tür zu seinem Haus öffnete. Er bückte sich, nahm sie auf den Arm und liebkoste sie zärtlich.
"Hoffentlich geht es Christine gut.", meinte er und schmiegte seinen Kopf an den Hals seiner einzigen Gefährtin, die ihm noch geblieben war. Die Katzendame miaute mitleidig, als könnte sie verstehen, von was Erik gesprochen hatte und schmiegte sich tröstend an ihn.
"Am liebsten würde ich mich nach ihrem Befinden erkundigen, aber wenn ich das tue, wird sie erst Recht keine Ruhe haben, und Ruhe braucht sie jetzt am Dringendsten.", murmelte Erik vor sich ihn und ging zu seinem Sekretär und holte all seine Kompositionen hervor, um sich mit etwas sinnvollem zu beschäftigen. Er dachte wirklich daran Nadirs Vorschlag in die Tat umzusetzen, vielleicht konnte er so wenigstens etwas mehr in dieser Welt hinterlassen, als nur ein paar Legenden über ein Phantom der Oper.
Stundenlang blätterte er Notenblatt für Notenblatt durch, spielte seine Stücke an und brach sie wieder ab, doch es half nichts, seine Gedanken kreisten nur um Christine. Er ging zu ihrem Zimmer, blieb in der Tür stehen, als wäre dort eine Grenze die er nun, nicht mehr zu überschreiten wagte und blickte in den leeren Raum. Wieder griff der Atem der Melancholie nach seiner Seele und bemächtigte sich ihrer.
Starr wie eine Salzsäule stand er dort und schaute auf den Frisiertisch, in den Spiegel hinein, und konnte seinen Blick einfach nicht abwenden, von diesem Folterinstrument. Am Rand der gläsernen Fläche, waren formvollendete Gravuren angebracht und genau dort, wo ein kunstvoll geschwungenes M prangte, saß eine riesige Spinne und wagte nicht weiter zu krabbeln. Tränen standen in seinen Augen, als er das Tier betrachtete und sich unweigerlich an Christine erinnerte. An Christine und ihre panische Angst vor hässlichen Spinnen, die sie berühren könnten.
"Wenn du mich berühren würdest, bliebe mir das Herz stehen*.", flüsterte er in den Raum hinein. Genau das musste sie von ihm denken, wenn sie an ihn denken würde. Selbst jetzt, wo sie ihn geküsst hatte, würde sie so denken, da war er sich sicher. Abrupt riss er sich von dem Anblick los, ging auf den Frisiertisch zu und trug das Tier nach draußen, ehe er sich in seinen Sessel zurückzog. Auf dem kleinen Beistelltisch lag neben Victor Hugos "Glöckner von Notre Dame" eine kleine Ampulle mit Morphium. Er griff fast automatisch danach, stellte sie aber wieder hin, erstaunlich lange hatte er es ohne dieses Zeug ausgehalten. `Warum sollte ich es nicht noch ein Weilchen ohne aushalten´, dachte er sich.
Er starrte in das Feuer des Kamins und glaubte den trügerischen Frieden, schon zu spüren, den das Morphium gleich durch seinen Körper treiben würde. Die Sucht nach der beruhigenden Wirkung des Morphiums war stärker als sein Wille gewesen.
"Warum sollte ich jetzt anfangen darauf zu verzichten.", sagte er sarkastisch, mit zusammengebissenen Zähnen, als er die Nadel in seinen Arm stach und das klare Gift in sich hineinspritzte.
"Es gäbe nur einen Grund aufzuhören: Christine.", murmelte er und blickte weiterhin ins Feuer und ließ seinen Traumgedanken freien Lauf. "Ja, für sie allein, würde ich damit aufhören, aber sie wird nicht kommen, sie wird mich nicht von diesem schrecklichen Laster befreien.", flüsterte er in die Flammen und ergab sich dem warmen Frieden dieser Droge.
1 - Charles Frederick Worth war erfolgreicher Designer und kleidete die feine Gesellschaft der Gründerjahre ein, Kaiserin Sissi, zählte ebenfalls zu seinen Kundinnen.
*Wieder mal ein Zitat aus Susan Kays "Das Phantom".