III. Besuche
Vor über einer Woche hatte er sie aus den Fängen dieses Ungeheuers gerettet und doch wirkte Christine noch immer etwas apathisch. Noch immer schlief sie tagsüber oder zog sich mit ihrem Kätzchen zurück und des nachts wanderte sie durch das Haus, als würde sie keine Ruhe finden. Raoul machte sich mittlerweile ernstlich Sorgen um sie, und war kurz davor einen Arzt zu rufen. Er erkannte sie kaum wieder. Früher war sie so lebensfroh gewesen, liebte die Natur und den Sonnenschein und nun, zog sie die Dunkelheit vor, hatte die Zeit bei ihm, sie so sehr beeinflusst und verändert.
"Was geht nur in dir vor mein Engel.", flüsterte Raoul Christine zu und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Christine drehte sich leicht im Schlaf, wachte jedoch nicht einmal auf, als Raoul sie sanft berührte. Leise schlich er sich aus ihrem Zimmer und hoffte, dass sie bald wieder so wäre wie früher, bevor sie dem Phantom begegnet war.
Was sollte er nur tun, ihre ständige Müdigkeit war nicht normal, das wusste selbst er, als Laie. Er fragte sich, ob er wirklich einen Arzt konsultieren sollte, aber dann würde er ihm sicherlich erzählen müssen, wie es zu ihrer Unpässlichkeit gekommen war und das würde ihm keiner glauben, denn er glaubte es ja selbst kaum. Auch ihn quälten des Nachts die schrecklichen Erinnerungen, an seine eigene Begegnung mit Erik, die ihm beinah das Leben gekostet hatte. Doch, im Gegensatz zu Christine, hatte er eine Beschäftigung gefunden, mit der er sich wenigstens am Tage ablenken konnte. Die Organisation ihrer Hochzeit und ihres Umzuges nach England beanspruchte ihn sehr, so dass er auch heute erst spät am Abend nach Hause kommen würde.
"Ich muss sie sehen, Ayesha, das verstehst du doch, oder?", sprach er mit seiner Katze und legte seinen langen schwarzen Umhang um. Er musste zu ihr, er musste sie sehen, seit sie vor über einer Woche gegangen war, war ihr Bild in ihm eingebrannt und verschwand einfach nicht, so sehr er es auch versuchte. Und er hatte es auf verschiedene Weise versucht, Schlafentzug, Drogenentzug, übermäßiger Drogenkonsum, er hatte sich alles verboten, er hatte sich sogar ohne Maske vor einen Spiegel gesetzt, doch es half nicht, ihr Bild blieb wo es war, tief in seiner Seele eingebrannt. Nun kannte er nur noch einen Ausweg, er musste sie sehen, egal wie, aber er musste sie sehen.
Die Nacht war schon lange hereingebrochen und Christine schlief noch immer, nicht ahnend, dass sich ein großer dunkler Schatten katzenhaft durch den Garten bewegte. Eine in tiefes Schwarz gekleidete Figur huschte von Busch zu Busch um unentdeckt zu bleiben. Der Garten lag glücklicherweise im Dunkeln, denn schon vor einer Stunde, so hatte der unheimliche Besucher beobachtet, waren die schweren Vorhänge zugezogen worden und nun brannte nur noch ein schwaches Licht aus einem der Gästezimmer, die zum Garten hin lagen. Erik war sich sicher, dass es ihr Zimmer war, in dem ein einladendes Licht den Raum schwach erhellte. Geräuschlos schlich er sich an das Haus heran und ging in Richtung des Rankgitters, wo im Sommer die Rosen entlang klettern würden, aber nun im Winter waren sie zurückgeschnitten und boten ihm eine Leiter zu seinem Engel. Er rüttelte kräftig aber leise daran, um sich zu vergewissern, dass es ihn halten würde, erst dann kletterte er geschmeidig wie eine Katze und mit sicheren Schritt nach oben. Er hangelte sich vorsichtig zu ihrem Fenster hinüber und lugte zaghaft hinein.
Sie lag scheinbar friedlich in ihrem Bett und schlief, doch die Schatten unter ihren Augen, waren selbst ihm nicht verborgen geblieben. Vorwürfe machten sich in ihm breit, wie hatte er es nur so weit kommen lassen können. Und doch konnte er sich von ihrem Anblick einfach nicht lösen, sie war noch immer wunderschön, etwas blass und erwachsener, aber immer noch schön wie ein Engel. All die Erinnerungen kamen in ihm hoch, all die Erinnerungen an die vielen Stunden, die sie bei ihm gewesen war, all die Stunden, in denen sie seine Schülerin gewesen war, die Stunden, in denen sie sich um ihn gekümmert hatte, als er seinen Anfall gehabt hatte. Und nun musste er sehen, wie sehr sie offensichtlich unter den Ereignissen der letzten Stunden, die sie bei ihm gewesen war, litt, als wären sie erst vor wenigen Stunden vorübergegangen. Welch Qualen hatte er ihr nur zugefügt.
Die Zeit schien für Erik stehen zu bleiben, er betrachtete seinen Engel, als würde er an ihrem Bett sitzen. Doch plötzlich ging die Tür auf und Raoul trat ein. Erik zog sich weiter in die Dunkelheit zurück, um sicher zu gehen, dass ihn niemand sehen würde, doch er hatte noch immer freien Blick auf Christine. Er sah wie sich der junge Mann, auf ihr Bett setzt und zärtlich ihre Hand in seine nahm und darüber streichelte. Eriks Herz krampfte sich bei diesem Anblick schmerzlich zusammen, er wünschte sich, er würde ihre Hand halten, aber er wusste er würde niemals ihre Hand halten dürfen, sein abscheuliche Hässlichkeit verbot es.
Christine schlug die Augen auf und blickte direkt in Raouls Gesicht, doch sie schien durch ihn hindurch zusehen und starrte aus dem Fenster. Ihr Blick wurde plötzlich klarer und Erik fühlte sich ertappt und hastete nach unten und in die sichere Dunkelheit. Hatte sie ihn etwa gesehen? Das war unmöglich, er stand im Schatten, sie konnte ihn unmöglich gesehen haben.
Etwas erschöpft richtete Christine ihren Blick nun auf Raoul, sie musste etwas sehen, was sie beruhigte, sie hatte eben das Gefühl gehabt, das Erik vor ihrem Fenster gestanden hatte und sie verzweifelt angesehen hatte. Was sollte sie nur tun, sie liebte Raoul und er sie, doch Erik ging ihr seit ihrer Rückkehr in die Oberwelt einfach nicht mehr aus dem Kopf. Und seit Ayesha hier war, hatte sie eine Erinnerung mehr an ihn. Sie verstand sich einfach selbst nicht, sie sollte glücklich sein, doch sie war es nicht, statt dessen wurde sie von Tag zu Tag melancholischer und sehnte sich irgendwie wieder zurück zu ihrem Engel. Sie wollte die Zeit zurückdrehen und einfach alles anders machen, dann hätte sich bestimmt alles zum besseren gewandelt.
Erik indes eilte zurück in die Oper, zurück in seine Unterwelt. Er war sich nun sicher, dass sie ihn gesehen hatte, ihr Blick hatte sie verraten.
"Ich darf ihr nicht noch mehr Leid zu fügen.", sagte er sich, während die Augen seiner Siamkatze jeden seiner Schritte verfolgten.
Ayesha verstand ihn nicht, warum er sich wegen Christine so aufrieb, sie legte ihren Kopf auf ihre Pfoten und döste vor sich hin. Erik ging auf und ab und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Er musste etwas unternehmen, damit sie sich endgültig von ihm befreien konnte. Er wusste von Nadir, dass der Vicomte gedachte nach London zu ziehen, dann wären zwischen ihm und ihr der Kanal, doch wäre dies genug Distanz, damit sie endlich vergessen konnte?
"Nein, der Abstand muss größer sein, den Kanal zu überqueren ist zu einfach."
Er stand vor dem großen Bücherschrank und holte gedankenverloren den schweren, in Leder gebundenen, Atlas hervor. Er blätterte darin und folgte mit dem Finger die vielen Wege, die er schon gegangen war in seinem Leben. Dann schlug er eine Karte mit Amerika auf, zwischen der Neuen und der Alten Welt die weite des Atlantischen Ozeans, das müsste doch eigentlich genug sein, dachte er sich und überlegte wie er Jules und seine Familie dazu bringen könnte, mit ihm nach Amerika, nach New York zu gehen. Er wusste, dass Madame Bernard nicht gut auf ihn zu sprechen war, aber er hoffte inständig, Jules würde einen Weg finden, sie zu überreden.
Auch Nadir machte sich noch immer Sorgen um Christine, obwohl sie frisch und kräftig gewirkt hatte, als sie mit Raoul Erik verlassen hatte, hatte er den Vicomte nie in Begleitung seiner Verlobten das Haus verlassen sehen. Er schloss daraus, dass es Christine doch nicht so gut ging, wie er gehofft hatte und rang schon seit Tagen mit sich, Raoul zu besuchen. Nach drei weiteren Tagen des stillen Beobachtens, entschied sich Nadir, endlich zu läuten und sein Vorhaben in die Tat um zu setzten.
Nadir zog kräftig an der Glocke und wartete. Wenig später, öffnete ein leicht versnobter englischer Butler die Tür und sah ihn etwas verächtlich an.
"Sie wünschen?", fragte er knapp und kühl.
"Ich möchte mit dem Vicomte de Chagny reden." Antwortete Nadir, der völlig unbeeindruckt auf den Butler reagierte. Dieser ließ ihn eintreten und bat ihn, zu warten.
Einige Zeit verging, bevor Nadir endlich vorgelassen wurde. Raoul saß im Kaminzimmer und rauchte eine Zigarre, auch er wirkte etwas abgespannt, stellte der Perser mit erstaunen fest.
"Nadir, bitte setzten Sie sich. Was führt Sie zu mir.", begrüßte Raoul seinen Gast, den er seit den Stunden bei Erik nicht noch mal gesehen hatte.
"Ich kann mich nicht beklagen, mir geht es gut. Aber wenn ich sagen darf, Sie sehen etwas zerschlagen aus.", meinte Nadir ruhig.
Raoul machte ein verzweifelte Geste, als er den Butler rausschickte und nicht gestört werden wollte.
"Ich weiß nicht mehr weiter. Christine schläft den ganzen Tag oder zieht sich mit ihrer Katze zurück. Und nachts wandert sie durchs Haus und durch den Garten. Sie isst kaum etwas, und wird von Tag zu Tag dünner. Ich bin kurz davor nach einem Arzt zu schicken."
Er hatte also doch recht gehabt, es ging ihr nicht gut. "Mademoiselle hat eine Katze?", fragte er nach, um irgendwie das Thema zu wechseln.
"Ja, ich habe ihr am Tag nach unserer Rückkehr eine Siamkatze geschenkt, sie hat sie Ayesha genannt.", meinte Raoul wie selbstverständlich, doch Nadir wurde immer bleicher.
"Siamkatze?! Ayesha?!"
"Ja, was ist daran, so merkwürdig, das Sie so ein Gesicht ziehen.", erwiderte Raoul etwas amüsiert, über das Gesicht, dass der Perser plötzlich machte.
Nadir musste tief durchatmen, denn das was er dem Vicomte nun sagen müsste, würde nicht einfach sein, aber er musste es tun, nur so würde er seine Verlobte verstehen.
"Erik hat auch eine Katze.", begann Nadir leise. "Eine Siamkatze, dunkles Gesicht, blaue Augen und ein cremefarbenes Fell. Sie heißt... .", doch weiter kam er nicht, den Raoul viel es auf einmal wie Schuppen von den Augen.
"... Ayesha."
Nadir nickte nur und glaubte die Selbstvorwürfe in den Augen des jungen Mannes förmlich zu sehen.
"Ich muss ihr das Tier wegnehmen.", meinte er.
"Sind Sie verrückt! Das können Sie nicht tun, Raoul, das würde sie in ihrer momentanen Verfassung umbringen. Es wäre besser, wenn Sie Christine aus Frankreich bringen würden, Distanz dürfte helfen ihn zu vergessen, solange sie in Paris ist, ist sie ihm zu nah."
"Wir wollen, nach der Hochzeit nach London gehen. Ich hoffe, dass das weit genug ist."
"England. Da ist der Kanal dazwischen, das sollte genügen."
"Haben Sie ihn in letzter Zeit gesehen?", fragte Raoul nach, denn er ahnte, dass der Perser Erik schon länger kannte.
"Er war einige Tage nach dem Zwischenfall bei mir und hat mich eingeladen ihn zu besuchen.", meinte Nadir unverfänglich, den Grund für die Einladung verriet er lieber nicht, sonst würde Christine wohl nicht die Einladung bringen dürfen, und das war ein Moment, denn er Erik nicht verwehren konnte, egal was er auch getan hatte, aber die Erfüllung dieses Wunsches konnte und wollte er nicht verhindern.
"Ich habe ihn auch einige Tage danach gesehen, vor einem Schaufenster eines Juweliers in der Rue de la Paix.", sagte Raoul leise. "Ich wollte mit ihm reden, doch er flüchtete."
"Wundert Sie das? Immerhin haben Sie seinen Engel. Er liebt sie mehr als sein Leben.", entgegnete Nadir gelassen.
"Lieben? Kann er das? So wie er sich aufgeführt hat, würde ich ihn ehr für verrückt, als für verliebt halten.", schnaubte Raoul leicht wütend, doch Nadir beruhigte ihn und erzählte ihm die Geschichte von der weißen Rose und der Nachtigall.
Christine hatte mitbekommen, dass Nadir gekommen war und neugierig, wie sie war, hatte sie sich nach unten geschlichen und hatte die beiden belauscht. Was sie hörte, machte sie wütend und traurig zu gleich. Wütend, weil Raoul ihr nie gesagt hatte, das er Erik begegnet war und traurig, weil Nadir mit der Geschichte ihre eigenen Erinnerungen aufwühlte, denn Erik hatte ihr dieselbe Geschichte erzählt. Sie stand einfach nur so da und versuchte ihre Gedanken unter Kontrolle zu bringen, die wieder einmal zwischen Erik und Raoul hin und her sprangen. Die Zeit vergessend, stand sie immer noch neben der Tür, als sich Nadir nach Stunden von Raoul verabschiedete. In letzter Minute, hatte sie auf ihr Zimmer flüchten können und schloss sich ein. Sie wollte jetzt niemanden sehen, auch nicht Raoul, der gewiss gleich zu ihr kommen würde, wie jeden Abend.
Als Christine die Tür, ihres dunklen Zimmers, hinter sich schloss, huschte ein dunkler Schatten aus dem Zimmer nach draußen. Mit zitternden Fingern, schloss sie die Tür ab und lief der Gestallt schnell hinterher, doch der Schatten war viel schneller als sie. Als sie das offene Fenster erreicht hatte, erreichte er den Schutz der dunklen Bäume.
"Erik.", flüsterte Christine in die kalte Nacht hinein. Sie war sich sicher, dass er es war. Erst dann, setzte sie sich an die kleine Kommode und entdeckte den Brief, den er ihr hinterlassen hatte.
Meine liebe Christine,
bitte verzeih mir meine Dreistigkeit, ohne Dein Einverständnis Deine Räumlichkeiten betreten zu haben, aber es gibt Dinge, die ich Dir unbedingt schreiben musste.
Hab keine Angst, ich habe meine Meinung nicht geändert, ich möchte noch immer, dass Du glücklich wirst und ich habe eingesehen, dass ich nicht der Schlüssel zu Deinem Glück bin. Ich werde dies akzeptieren und freue mich für Dich. Ich muss gestehen, ich war vor ein paar Tagen schon einmal hier und habe Dich gesehen, wie Du geschlafen hast. Verzeih, aber ich musste Dich einfach sehen, und konnte nicht warten, bist Du mir die Einladung zu Eurer Hochzeit überbringst.
Eigentlich bin ich nur hierher gekommen, um Dich um Verzeihung zu bitten, ich weiß ich verlange viel von Dir, wenn ich darum bitte, dass Du mir verzeihst, vor allem nach dem, was ich Dir und auch Deinem Verlobten angetan habe. Vielleicht ist es auch für mich noch nicht zu spät, mich zu entschuldigen. Aber ich hoffe, Du nimmst meine Entschuldigung an, ich falle auf Knien vor Dir nieder, damit Du mir verzeihst, wenn ich könnte, würde ich alles rückgängig machen und mich auf anständige Art und Weise von Dir verabschieden und die Niederlage wie ein Edelmann akzeptieren.
Erik
Christines Hände zitterten, als sie seinen Brief las, Tränen rannen über ihr Gesicht, bei der Vorstellung, wie er auf Knien vor ihr saß und unter Tränen um Verzeihung bat. Raoul klopfte währenddessen mehrmals an ihrer Tür, doch sie überhörte es, sie ignorierte ihn, denn im Moment, existierte er für sie nicht. Sie hob Eriks Brief an ihr Gesicht und roch daran, es roch nach ihm, der leichte Geruch nach Tod, haftete an diesem Papier, wie an der Feder, die noch immer im Tintenfass steckte. Nur langsam kehrte sie in die Wirklichkeit zurück, Raoul durfte den Brief niemals finden, also versteckte sie ihn, in ihrem Tagebuch, dass sie in einer Tasche unter ihrem Tunikarock, immer bei sich trug. Raoul hatte es mittlerweile aufgegeben in ihr Zimmer zu kommen und war zu Bett gegangen. Nur Christine saß hellwach an ihrer Kommode und fing an über sich, über Raoul und über Erik nachzudenken.