X. Ein neues Heim
Vier Tage lang waren sie in London gewesen, doch schon bei ihrer Ankunft, missfiel Christine diese Stadt. Gewiss es gab einige Dinge die architektonisch sehenswert waren, aber sie fand London einfach nur schmutzig und muffig, es fehlte diese besondere Eleganz die Paris so eigen war. In diesen vier Tagen erlitt Christine einen Rückfall und zog sich wieder mehr und mehr zurück, sehr zum Verdruss von Raoul, der sie gerne der Londoner Gesellschaft vorgestellt hätte.
Inständig hoffte Raoul, dass es ihr auf dem Land wieder besser gehen würde, und brachte sie in ihr neues Heim, einem kleinen Anwesen in der Nähe von Windsor, von der Terrasse aus, konnte man sogar Windsor Castle erblicken, doch dafür hatte Christine keinen Sinn, zumindest nicht heute. Sie fühlte sich matt, sah dazu äußerst blass aus und konnte sich kaum aufrecht halten. Es war schlimmer als in Paris, musste sich Raoul eingestehen und dabei hatte er gehofft, dass es ihr endlich besser gehen würde. Er würde eine Krankenschwester engagieren, die sich um Christine kümmern sollte, während er in London beschäftigt war. Wohl oder übel musste er Christine unter der Woche alleine lassen, denn er konnte nicht täglich zwischen Windsor und London hin und her fahren, er würde weiterhin bei seinem Freund wohnen, bis er ein geeignetes Stadthaus gefunden hätte.
Das Haus war schön, auch wenn es nach englischem Stil eingerichtet war, der Garten weitläufig, doch dafür hatte Christine keinen Blick übrig, denn sie kränkelte und lag im Bett. Die ersten Tage war Raoul bei ihr geblieben und hatte sich so gut er es vermochte um sie gekümmert, bis die englische Krankenschwester eingestellt war, das war nun zwei Tage her, seitdem war Raoul in London und würde erst am kommenden Freitag wieder zurück sein. Eine Woche alleine mit diesem Drachen von Krankenschwester, die ihr sogar verboten hatte, dass Ayesha bei ihr war.
"Tiere gehören nicht in ein Krankenzimmer.", hatte Miss Minchen, so hieß die Krankenschwester, angeordnet und ihr Wort war Gesetz, solange Christine krank und Raoul abwesend war.
Seit zwei Tagen hatte Christine ihr Kätzchen nicht mehr gesehen, wodurch es ihr nur noch schlechter ging. Sie aß überhaupt nichts mehr, außer Miss Minchen fütterte sie, sie schlief ständig und bestand auf absolute Dunkelheit in ihrem Zimmer. Ihre Haut nahm eine gräuliche Farbe an, ihre Augen verloren allen Glanz, sie magerte stark ab und war fast zu schwach zum Reden, als Raoul am Freitagabend zurückkam und sie besuchte.
Er erschrak als er seine geliebte Christine sah, sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst, bei allem musste ihr geholfen werden, beim Trinken, beim Essen, und beim Aufstehen. Es war ein schrecklicher Anblick und es gab für ihn nur einen Schuldigen an ihrem Unglück.
"Christine, Engel."
"Raoul.", sagte sie schwach lächelnd, als Raoul an ihrem Bett saß.
"Bitte bleiben sie nicht allzu lange Sir, sie braucht viel Ruhe.", meinte Miss Minchen, bevor sie Raoul mit seiner Verlobten alleine ließ. Als die Tür sich öffnete versuchte Ayesha in Christines Zimmer zu gelangen, doch die Krankenschwester war schneller und stellte sich dem kleinen Tier in den Weg.
"Ayesha."
"Es ist nicht gut, wenn sie bei dir ist.", versuchte Raoul sie zu beruhigen.
"Ich will sie aber bei mir haben.", flüsterte sie, zu mehr war sie nicht mehr in der Lage.
"Christine, bitte du musst dich ausruhen und da kann dir die Katze auch nicht helfen."
"Du verstehst das nicht.", meinte Christine trotzig und drehte Raoul den Rücken zu. "Geh, lass mich alleine, ich brauche meine Ruhe.", sagte sie in Divamanier.
Raoul verlies resigniert ihr Zimmer, er hatte ja mit allem gerechnet, aber dass es ihr so schlecht gehen würde, damit nicht. Verzweifelt stützte er seinen Kopf in seine Hände und verfluchte den Tag, an dem dieses Ungeheuer in ihr Leben getreten war, er verfluchte Erik dafür, dass er scheinbar noch immer solche Macht über sie hatte. Seit fast zehn Tagen ging es ihr nun schon so schlecht, es muss doch irgendwann mal besser werden, dachte er sich. Unter diesen Umständen musste die Hochzeit zwangsläufig verschoben werden.
Obwohl sich Raoul um Christine sorgte, ließ er sie unter der Woche allein und verbrachte nur die Wochenenden bei ihr. Seit fast vier Wochen waren sie nun schon in England und Christine ging es immer schlechter und auch die Katze begann zu allem Überfluss an zu kränkeln. Minette kümmerte sich so gut es ging um das Tier, aber lange würde das Kätzchen wohl nicht mehr durchmachen, wenn das Christine erfahren würde, würde sie wohl nie wieder richtig gesund werden. Die ganze Situation war zum verzweifeln, wenn diese Miss Minchen nur gestatten würde, dass die Katze zu Christine durfte, dann würde es bestimmt beiden bald besser gehen, da war sich Minette ganz sicher, aber diese Minchen war ein eiskalter Drachen, der niemanden zu Mademoiselle gehen ließ.
A/N: Einen Monat nach Auslaufen der Madeleine
Es war noch dunkle Nacht, als Jules Bernard, seine Familie und auch Erik weckte. Er selber hatte schon seit Stunden nicht mehr schlafen können, so vieles war ihm durch den Kopf gegangen, seit ihrer Abfahrt in Cherbourg hatte er versucht Englisch zu lernen, mit mehr oder weniger Erfolg. In den letzten drei Wochen ihrer Reise, hatte er, sehr zu seiner Überraschung, von Erik einige Lektionen erhalten, der diese Sprache beinah akzentfrei sprach. Während einer dieser Lektionen, hatte er dann auch erfahren, dass Florence, seine älteste Tochter, sich gegen den Willen ihrer Mutter, mit Erik traf und mit ihm über Kunst sprach. Bisher hatte Jules dies seiner Frau verheimlicht, irgendwann würde sie es sicherlich erfahren, aber er hoffte inständig, dass dies noch eine ganze Weile dauern würde, denn Erik tat es gut, dass jemand mit ihm unbefangen redete und Florence wurde in ihrem Talent bestärkt.
"Monsieur, wir sind gleich im Hafen von New York.", teilte Jules Erik mit, der jedoch schon seit geraumer Zeit auf war und bereit war an Land zu gehen.
"Ich weiß, Jules. Ich hoffe, ihre Familie ist schon wach."
"Ja, ja, sie stehen gerade auf und machen sich fertig."
Erik packte noch die letzten seiner Sachen zusammen und vermummte sich, wie an dem Tag, an dem er an Bord gegangen war. Jules hatte dank einer Anzeige bei einem Immobilienmakler ein kleines Haus anmieten können, für das er noch vor ihrer Abreise eine Bestätigung erhalten hatte, in dem sie die erste Zeit würden wohnen können. Somit waren sie zwar gezwungen alle unter einem Dach zu leben, aber als Übergangslösung, wäre dies wohl machbar. Auch wenn Madame Bernard zuerst protestieren wollte, so hatte sie sich doch schnell gefügt. Was blieb ihr auch anderes übrig.
Eine Stunde später, als der Morgen bereits graute, ging Familie Bernard und Erik von Bord des kleinen Schiffes und gingen hinein in ein neues Leben. Das Haus, dass Jules in Frankreich hatte anmieten können, war klein und muffig und in einem desolatem Zustand. Es gab nicht genügend Zimmer für alle, so dass sich die Kinder die beiden Schlafzimmer teilen mussten, was für Unmut unter den größeren sorgte. Jules und seine Frau bezogen mit den beiden kleinsten das dritte Schlafzimmer, während Erik ein Zimmer für sich bekommen sollte.
Während das Gepäck abgeladen und ins Haus getragen wurde, machte Erik einen Rundgang und stellte zu seiner Genugtuung fest, dass dieses Haus einen recht geräumigen und vor allem trockenen Keller besaß. Arbeiten würde er wohl oben im hellen Wohnzimmer, aber wenn er sich hier unten einquartieren würde, hätten die Kinder ein Zimmer mehr und damit auch mehr Platz.
"Jules, sie können mein Zimmer ruhig den Kindern überlassen, ich werde den Keller beziehen, bis sie etwas geeigneteres gefunden haben oder ich genügend Geld verdient habe, mein eigenes Haus bauen zu lassen.", sagte Erik beim Essen, das Madame Bernard zubereitet hatte, während die anderen das Haus besichtigt hatten.
"Das kommt ja gar nicht in Frage Erik.", protestierte Jules.
"Warum nicht, ich habe schon früher in Kellern gewohnt. Glauben sie mir, in Paris war es nicht das erste Mal, dass ich mich in Kellern zurückzog und außerdem hatte ich schon schlimmere Räumlichkeiten. Ich bestehe darauf."
"Wie sie wollen. Ich habe, als ich die Lastkutsche zurückgebracht habe, bei einer Zeitung die Anzeige aufgegeben, die sie während der Überfahrt entworfen haben."
"Danke, Jules."
"Der Verleger meinte, außergewöhnliche Architekten wären hier Mangelware und bei den Reichen der Stadt sehr begehrt. Er meinte viele würden in den luxuriösen Hotels oder in ihren Landhäusern wohnen."
"Das klingt, als kämen wir gerade zur rechten Zeit, Jules. Wenn wir Glück haben, und die Entwürfe ankommen, sind wir hier bald draußen und in einer besseren Wohngegend.", meinte Erik. "Sie haben viel aufgegeben, um mit mir hierher zu kommen.", murmelte er, als er Madame Bernard platz machte am Tisch und in den Keller ging und sich halbwegs einrichtete.
Erik saß auf seinem Bett und hoffte inständig, dass all das hier richtig war und vor allem, dass er bald Interessenten finden würde, die sich von ihm ihre Stadthäuser entwerfen lassen würden, denn diese Enge, die dieses Haus bot, war bedrohlich. Es kam ihm wie ein Kerker vor und wollte er hier raus, musste er einfach erfolgreich sein. Das war er sich, seinem Lehrer, Garnier, Nadir und vor allem den Bernards schuldig. Er fragte sich, wie es Christine gehen mochte, mittlerweile dürfte sie seit einem Monat in England sein und war gewiss schon mit dem Vicomte verheiratet.
Ayesha meldete sich von der Tür her und forderte seine Aufmerksamkeit, erstaunlicherweise war ihr die lange Überfahrt sogar sehr gut bekommen, obwohl sie nicht mehr die jüngste war, aber ein paar Jahre würde sie gewiss noch haben, sie war stark und gesund. Erik war sich sicher, dass er vielleicht sogar vor seiner Katze sterben würde, denn er hatte nicht gerade den gesündesten Lebensstil gewählt, feuchte Keller, Drogen, schlechte Essgewohnheiten, ständige Überarbeitung, irgendwann würde all dies seinen Tribut zollen. Ayesha mauzte mürrisch und riss Erik aus seinen melancholischen Gedanken heraus.
"Du hast recht, mein Liebes, wir werden das Leben genießen, so lange wir sind.", sagte er zu ihr und packte ihren kleinen Katzenkorb aus, der mit Samt und Seide ausgekleidet war.
Er packte seine Entwürfe aus und brachte sie nach oben. Jules würde wie früher den Interessenten alles erläutern und ihre Änderungswünsche entgegennehmen und ihm mitteilen. Er würde auch die Arbeiter anheuern, sobald es soweit sein würde und nachts, wenn kein Arbeiter mehr da war, dann würde er selber auf die Baustellen gehen und kontrollieren ob alles richtig gemacht wurde.
Es würde ein angenehmes Leben werden, wenn alles so lief, wie er sich das vorstelle, es wäre kein perfektes Leben, aber für ihn annehmbar. Vielleicht würde er wieder in die Oper gehen können oder einer Orgel lauschen. Und irgendwann würde sicherlich der Tag kommen, an dem er in seinem eigenen Haus, auf seinen eigenen Instrumenten wieder komponierte. Nur einen Wermutstropfen gab es, er wäre alleine, es würde keinen Menschen geben, der die einsamen Stunden mit ihm teilen würde und sich mit ihm freuen würde, über einen erfolgreichen Tag. Es würde niemanden geben, dem er sein Herz würde schenken können, er hätte nur Ayesha und seine Freunde sonst niemanden.
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