Leseecke     Kapitelübersicht     Home

XI. Ein neues Leben beginnt

Zwei Monate nach ihrer Ankunft in England, war Christine schwächer den je. Sie schlief ständig, aß wenig und sprach mit niemanden. Miss Minchen kümmerte sich weiterhin um Christine, während Raoul die meiste Zeit in London bei seinem Freund war. Anfangs fuhr er am Wochenende zu Christine, doch seit fünf Wochen, war er nur in Windsor gewesen, um neue Sachen zu holen und hatte sich nur bei Miss Minchen nach Christines Zustand erkundigt. Er schien sich weniger Sorgen zu machen, als Minette, die junge Zofe verstand ihren Herrn nicht, immerhin lag seine Verlobte im Bett und schien todsterbenskrank zu sein und er sah nicht einmal nach ihr, dass er sich nicht um die Katze kümmerte, die auch wieder krank war, kümmerte sie nicht, aber dass er seine Verlobte so ignorierte, empörte sie doch sehr. Wie konnten die beiden sich überhaupt das Eheversprechen geben, wenn sie sich scheinbar doch nicht liebten. Wenn Raoul in sein Haus kam, plagte ihm immer ein schlechtes Gewissen, gegenüber Christine, aber dann entschuldigte er sich vor sich selbst, in dem er sich einredete, dass ihr Anblick ihn quälen würde, dass er es nicht ertrug, sie so krank zu sehen und nur deshalb nicht an ihrem Bett saß.

"Minette, ich gehe in die Stadt, zum Apotheker. Bitte sorgen sie dafür, dass die Miss ihren Tee trinkt.", verabschiedete sich Miss Minchen und überließ Minette die Fürsorge für Christine. Dass war ihre Chance, dachte sich Minette. Kaum dass die Krankenschwester außer Sichtweite war, holte sie Ayesha und ging zu Christine ins Zimmer.

Ayesha mauzte schwach auf, als sie Christine erblickte. Und auch Christine schien mehr als glücklich zu sein, ihr Kätzchen zu sehen, ihre Augen begannen sacht an zu leuchten, als Minette die Siamkatze in die Arme von Christine legte.

"Miss Minchen ist zur Apotheke und hat mich beauftragt dafür zu Sorgen, dass ihr euren Tee trinkt."

"Minette.", sagte Christine schwach. "Wer führt die Haushaltskasse?"

"Nun, Monsieur, hat mir diese Aufgabe erteilt, euer Geld zu verwahren. Den Rest besorgt Miss Minchen in Monsieurs Abwesenheit.", antwortete Minette überrascht, sie hatte damit gerechnet, dass sie sich nach ihrem Verlobten erkundigen würde und nicht nach irgendwelchen Finanzangelegenheiten.

Christine schaute Minette durchdringend an und sie spürte, dass sie dieser jungen Frau, die kaum älter sein konnte als sie selbst vertrauen konnte. Sie wusste, wenn sie  England verlassen wollte, bräuchte sie jemanden, der ihr dabei half zu Erik zu kommen.

"Minette, bitte du musst mir etwas versprechen."

"Was immer ihr wollt, Mademoiselle."

"Ich beauftrage dich, in meinem Namen die Aussteuer zu besorgen. Ich habe in Paris eine Liste angefertigt, was besorgt werden muss. Ich bitte dich, aber jedem Einkauf etwas Geld abzuzweigen, dass du bitte gut versteckst. Erkundige dich bitte, was eine Überfahrt von England nach New York kostet und wenn du genügend Geld beiseite gelegt hast, besorgst du für mich und Ayesha eine Passage nach New York. Hast du verstanden?"

"Ja, Mademoiselle. Aber... ", Minette wollte gerade protestieren, immerhin war ihre Herrin doch sehr schwach und im Augenblick war gar nicht daran zu denken, dass sie eine so weite Reise unternehmen konnte.

"Du darfst niemanden, absolut niemanden etwas davon erzählen, hörst du. Vor allem Raoul darf kein Wort davon erfahren."

"Ja, ich werde schweigen."

"Danke. Ich werde schon wieder gesund, ich hatte genug Zeit mir über einiges klar zu werden und ich muss einen schrecklichen Fehler wieder gut machen."

"Mademoiselle, es kann aber sehr lange dauern, ich kann ja keine großen Summen abzweigen."

"Es ist egal, wie lange wir brauchen, so lange wir das Geld nur zusammen bekommen, bevor die Trauung ist."

Christine blickte Minette eindringlich an und trank ihren bitteren Tee, während sie Ayesha kraulte, die genüsslich schnurrte. Sie musste nach Amerika, sie musste von Raoul loskommen, ohne dass er davon erfuhr, dass sie zu Erik wollte. In den vergangenen Tagen hatte sie immer wieder von Erik geträumt, immer und immer wieder erschien er in ihren Träumen und warb um sie, er sang für sie und wenn sie erwachte, hallte seine engelsgleiche Stimme in ihrem Kopf nach und blieb dort, bis sie wieder einschlief, um wieder von ihm zu träumen. Sie wusste, sie könnte niemals mehr leben wie früher, wenn sie nicht bei ihm war, er war ihr Engel der Musik, ihr Lehrer, ihr Freund, ihre Liebe, eine Liebe, die tiefer und weiter reichte, als ihre Liebe zu Raoul. Sie brauchte Erik zum Leben, er war ihr Atem, ihre Speise, er war ihr Sinn fürs Leben, ohne ihn herrschte nur noch Leere und Kälte. Sie wollte zu ihm, sie musste zu ihm, egal wie lange sie noch brauchen würde, aber ihr Ziel stand, sie musste zu Erik.

"Mademoiselle, darf ich euch etwas fragen?"

"Was Minette."

Ayesha sprang vom Bett und lief hinaus, denn sie spürte, dass dieser Krankenschwesterdrachen bald wieder zurück kommen würde, und wenn dieser Drache sie bei Christine erblicken würde, würde diese Minchen sie bestimmt in den Garten verbannen oder schlimmeres mit ihr anstellen.

"Warum seit ihr mit dem Vicomte verlobt?", brachte Minette nach einer Weile hervor, sie wusste, dies war eine ungehörige Frage, die ihr in keinster Weise zustand, aber sie musste es wissen.

"Weil man für mich so entschieden hat. Es gab einen Moment in meinem Leben, da wurde ich vor eine schwere Wahl gestellt, Raoul oder mein Lehrer, doch ich konnte mich nicht entscheiden, ich hatte Angst. Also entschied mein Lehrer und schickte mich mit Raoul fort, damit waren wir verlobt."

"Aber, wie...?"

"Ich liebe Raoul, aber es ist ehr eine kindliche Liebe. Erik, jedoch liebe ich auf andere Art und Weise, ich dachte anfangs, unsere Liebe bestünde nur auf künstlerische Ebene. Aber erst in den vergangenen Wochen ist mir klar geworden, dass ich ihn wirklich liebe, und zwar aus meinem tiefsten Inneren, und dass diese Liebe mehr Tiefe besitzt, als jede andere. Ich muss zu ihm, wenn ich leben will.", sagte Christine leise, doch bei ihren letzten Worten, war ihr Verzweiflung deutlich zu hören gewesen.

"Minette, bitte kümmere dich um Ayesha, und wann immer du kannst bringe sie zu mir.", bat sie rasch, als sie hörte, wie die Haustür aufgeschlossen wurde. Minette schaute Christine noch immer besorgt an. "Keine Sorge, ich werde wieder zu Kräften kommen. Ich muss. Schließlich muss ich zu Erik.", fügte sie hinzu und lächelte schwach.

Kaum das Miss Minchen das Haus betreten hatte, rief sie nach Minette und deckte sie mit Arbeit ein. Der Vicomte hatte bisher kaum Personal angestellt, bis auf den Kammerdiener, diese Miss Minchen und sie, war nur eine Köchin eingestellt worden, daher musste Minette alle anfallenden Arbeiten allein erledigen. Zum Glück war das Haus nicht sehr groß und war kaum genutzt, da hatte sie nicht viel zu tun, doch Miss Minchen sorgte schon dafür, dass sie den ganzen Tag beschäftigt war. So auch heute, sie hatte sämtliche Räume zu reinigen, da der Vicomte dieses Wochenende nach Windsor kommen würde und auch für ein paar Tage bleiben wollte.


A/N: New York, drei Monate nach der Ankunft von Erik

Schnell hatte sich in der feinen Gesellschaft New Yorks herumgesprochen, dass ein äußerst talentierter Architekt aus Paris eingetroffen war, dessen Entwürfe von höchster Eleganz und Schönheit sein sollten. Da Jules noch am Tag ihrer Ankunft in der größten und wichtigsten Tageszeitung der Stadt eine Bekanntmachung geschaltet hatte, die Erik als neuen Stararchitekten feierte, kamen schnell die ersten Anfragen von potenziellen Kunden. In einer Beilage waren Entwurfsvorschläge und auch Zeichnungen gebauter Häuser beigefügt worden, welche die Männer der Gesellschaft überzeugten. Ihre Frauen bestellten ihre Garderobe in Paris, warum sollten sie sich dann nicht ein angemessenes Haus von einem Pariser Architekten entwerfen lassen.

Schon eine Woche später hatte Erik die ersten Aufträge erhalten, für die Jules schnell zuverlässige, vertrauenswürdige und exzellente Arbeiter engagiert hatte, und es kamen beinah wöchentlich neue Auftrage hinzu. Wie schon zuvor in Belgien wollte jeder, der etwas auf sich hielt, ein Haus von dem geheimnisvollen Architekten, der sich niemals zeigte und immer nur mit E. unterschrieb. Glücklicherweise wollten die Reichen in der Neuen Welt ihren Wohlstand entsprechend repräsentiert wissen, nicht nur durch ihre Frauen, die nach der neusten Pariser Mode aufgetakelt waren, sondern auch durch ihre Häuser. Daher legten sie Erik nur selten Preisgrenzen und erlaubten ihm alles, solange es nur extraordinär war und kein anderer etwas ähnliches hatte. Diesen Wunsch zu erfüllen, war für Erik ein leichtes, kein Haus, dass er entwarf glich dem anderen oder ließ etwas typisches, was man dem Architekten zuschreiben könnte, erkennen. Er verstand es aufs vortrefflichste die Neigungen und Wünsche seiner Kunden in ihre Häuser zu projizieren. Jules brauchte ihm nur etwas über die Interessenten zu berichten und schon wusste er, wie dessen Haus aussehen sollte. Und es war kein Ende seines Erfolges abzusehen, denn selbst in den anderen großen Städten, wie Philadelphia, Washington und Boston wollten die Reichen ihre Häuser von ihm entworfen wissen, egal ob es sich dabei um ein Stadtpalais oder einen Landsitz handelte, Erik erfüllte ihnen ihre Wünsche, immerhin gewährten sie ihm Freiheiten wie schon lange nicht mehr.

Und als vor einem Monat die ersten Zahlungen erfolgt waren, hatte er sich selbst ein großes Stück Land gekauft, auf dem er, umgeben von hohen Bäumen und einer hohen Mauer, ein eigenes Haus errichten würde, die Bauarbeiten dafür waren bereits im vollen Gange. Der Entwurf dafür war schon lange fertig, dafür hatte er während der langen Überfahrt von Frankreich hierher genügend Zeit gehabt. Auch für Familie Bernard verlief das Leben, dank Eriks Erfolg, zur größte Zufriedenheit. Erik bemerkten sie kaum, so dass Madame Bernard nichts mehr dazu sagte, dass sie mit ihm unter einem Dach leben musste. Außerdem würden sie ja spätestens in drei Monaten in unterschiedlichen Häusern leben. Jules hatte eine wesentlich größere Wohnung in einem besseren Viertel gefunden, in die sie so bald wie möglich ziehen wollten.

Es war Sonntag, die meisten seiner Kunden, verbrachten das Wochenende auf ihrem Landsitz, die Arbeiten ruhten und er hatte genug Zeit auf seinem eigenen Grundstück spazieren zu gehen. Auch hier hatten die Bauarbeiten bereits begonnen, der Rohbau war, dank des guten Wetters und der tüchtigen Bauarbeiter, bereits soweit fertig, dass das Erdgeschoss die Räume schon erkennen ließ, die Zwischendecke und das zweite Geschoss fehlten noch, aber das eilte auch nicht. Der Keller war bereits fertig und barg schon einen Teil seines Besitzes, wodurch die Bernards in ihrem gemeinsamen Haus wieder mehr Platz hatten. Sollte Jules mit seiner Familie früher ausziehen, würde er sich vorübergehend im Keller einquartieren. Es wäre nicht das erste, aber gewiss das letzte Mal. Er malte sich schon aus, wie die einzelnen Räume ausgestattet sein sollten. Ein Musikzimmer, in dem eine riesige Orgel stehen würde, ein Wintergarten mit allerlei exotischen Pflanzen, durch dessen Glasdach er nachts die Sterne beobachten könnte, einen großen Speisesaal, diverse Salons, eine große Küche, die er wohl kaum gebrauchen konnte, aber man konnte ja nie wissen, ein prächtiges Schlafzimmer im orientalischen Stil und Gästezimmer, alles was ein herrschaftliches Haus hermachte, wollte auch er für sein Anwesen haben. Dazu der Garten, der sein Haus umgab, all dies bräuchte Pflege und das hieß, er müsste wohl, wenn er nicht alles selber machen wollte, irgendwie ein paar Angestellte finden, die sich um sein Äußeres nicht scherten.

Gerade stand er in dem Raum, der einmal den Wintergarten beherbergen sollte, und schaute in den Garten. "Ein Schwimmteich würde sich bestimmt gut machen.", meinte er zu sich selbst und beschloss, dass noch in der kommenden Woche mit den Ausgrabungen dafür begonnen werden sollte. Die ersten Rosenstöcke waren bereits angepflanzt und unweigerlich musste er an Christine denken, die mittlerweile gewiss glücklich mit Raoul vermählt war und ganz gewiss nicht einen Gedanken an ihn verschwendete. Er sah ihr liebliches Gesicht vor sich, wie sie mit Raoul glücklich war und womöglich bereits sein Kind unter ihrem Herzen trug. Tränen schwammen in seinen Augen bei diesem Gedanken, er hatte sie nichtvergessen können, er hatte es gehofft, aber seine Liebe zu ihr war zu tief, zu groß, um seine Christine, seinen Engel einfach so zu vergessen.



vorheriges Kapitel                                                                                                                                                                                      nächstes Kapitel