XIII. Verfolgung

Ein blutroter Vollmond stand am sternenlosen Himmel über New York, als Erik die Terrasse betrat, die in seinen Garten führte. Schon seit Tagen war ihm einfach alles egal, er arbeitete beinah wie eine Maschine, seine Hände zeichneten fast ohne unterlass und selbstständig einen Entwurf nach dem anderen. Wenn Jules nicht täglich dafür sorgen würde, dass Erik etwas zu sich nahm und ihm etwas Gesellschaft leistete, hätte er sich gewiss in seinen Keller verkrochen und wäre nicht mehr hervorgekommen. Vor drei Tagen hatte er Jules gegenüber zum ersten Mal von der Sinnlosigkeit seines Lebens gesprochen und dass er dieses Leben satt hatte und am liebsten Tod wäre, worauf Jules versuchte Erik mehr als sonst irgendwie zu beschäftigten, er verwickelte ihn in Gespräche, die ihn geistig beschäftigten, denn aus irgendeinem Grund, hatte Jules das Gefühl, dass Erik erst dann sterben sollte, wenn Gott es für richtig hielt und nicht durch seine eigene Hand.

Erik stand an der Brüstung aus kostbarem Marmor und starrte den Mond an, rötlich stand dieser, wie blutgetränkt, am Nachthimmel. Gedankenverloren strich Erik über den Verband um seinem dünnen Handgelenk. Die weißen Bandagen reflektierten das silberne Mondlicht und schienen ihm die größten Vorwürfe machen zu wollen, während um den weißen Stoff herum nur Schwärze herrschte. Er fühlte noch immer das warme Blut aus der Ader sickern, wie es sich auf dem kalten Marmorboden ausbreitete. Jules hatte ihn heute Mittag im orientalischen Bad gefunden, wie er versucht hatte die große Ader an seinem Unterarm zu öffnen. Ob er ihn anketten müsse, damit er nicht auf dumme Gedanken kam, hatte Jules ihn besorgt vorwurfsvoll gefragt. Eine Stunde später war dann Florence gekommen und hatte von ihrem Vater die Anweisung bekommen, ihn  auf keinen Fall aus den Augen zu lassen. Am Abend war dann Jules gekommen und beide passten nun darauf auf, dass er nichts mehr in die Hand nahm, mit dem er sich irgendwie würde verletzen können. Er war gerührt gewesen, über so viel Fürsorge, aber all dies konnte ihm den Lebensmut nicht zurückbringen.

Ayesha schlängelte sich zwischen seinen Beinen umher und mauzte wehleidig.

"Mach dir keine Sorgen Liebes.", flüsterte Erik seiner treuen Katzendame ins Ohr, als er sie auf seinen Arm nahm. Sanft schlug sie mit ihrer Tatze auf den Verband und schaute ihn fragend vorwurfsvoll an.

"Ich weiß, aber nichts und niemand kann sie ersetzen.", seufzte Erik und sein Blick glitt wieder zum Mond und dann weiter nach Osten, wo in der Ferne seine geliebte Christine glücklich in den Armen des Vicomte ruhen musste.

"Christine.", hauchte er in die Kühle der Nacht, nichts ahnend, dass Christine in den frühen Morgenstunden New York erreichen würde, um zu ihm zurückzukehren.

* * *

Nervös ging Raoul im Wohnzimmer auf und ab. Christine war nicht im Nachmittagszug aus Dover gewesen, auch im Abendzug hatte sie nicht gesessen und später im Spätzug auch nicht. Er hatte sie abholen wollen, weil er eine Überraschung für sie hatte, doch sie war nicht ausgestiegen, auch Minette war nicht aus dem Zug gekommen und nun machte er sich Sorgen, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte. Vor einer halben Stunde war er vom Bahnhof zurückgekommen und hatte sofort seinen Diener losgeschickt die Polizei zu rufen.

Inständig hoffte er, das Christine den letzten Zug verpasst hatte und noch immer in Dover war, doch eine innere Stimme sagte ihm, dass etwas viel schlimmeres geschehen war. Sorgenvoll ging er in dem kleinen Salon auf und ab. Erst war die Katze verschwunden und nun scheinbar Christine und Minette, das war selbst für ihn zu viel und dabei hatten er und Christine doch in drei Tagen heiraten wollen und nun musste die Hochzeit offensichtlich schon wieder verschoben werden.

Es läutete an der Tür und wenig später trat der Diener des Vicomtes, in Begleitung zweier Polizisten, ein. Während der jüngere Polizist zusammen mit Raoul´s Diener das Zimmer und die persönlichen Gegenstände von Christine und Minette durchsuchten, nahm der ältere Polizist alles auf, was Raoul ihm erzählen konnte.

"Und Ihre Verlobte hat sich nie merkwürdig verhalten?", fragte der Inspektor nach, denn nach der Aussage des Vicomtes gab es absolut keinen Anhaltspunkt, weshalb sie nicht zu ihm  zurückgekommen war.

"Nein, nie. Sie war zwar die ersten Wochen, nach unserer Ankunft in England, sehr krank, aber sie hat sich nie auffällig verhalten."

"Warum haben Sie Paris verlassen?", fragte der Inspektor neugierig nach, in der Hoffnung, dass vielleicht ihre Vergangenheit in Paris Aufschluss über das plötzliche Verschwinden der Miss gab.

"Weil... .", Raoul musste plötzlich daran denken, unter welchen Umständen sie seine Heimat verlassen hatten: Damit Christine vor diesem Ungeheuer in Sicherheit war. "Weil es dort jemanden gab, der meine Verlobte bedroht hatte und damit wir unsere Ruhe haben, sind wir nach England gekommen.", meinte er leicht gereizt.

"Vielleicht ist Sie ja zu ihm zurückgekehrt, oder er ist hierher gekommen und hat Sie mit sich genommen.", schlug der Inspektor vor.

"Unmöglich, soweit ich weiß ist er nach New York ausgewandert."

"Nun, selbstverständlich werden wir die Suchanzeige sofort nach Dover weitergeben und wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, dann sagen Sie uns bescheid.", sagte der Inspektor und wollte sich gerade verabschieden.

"Ich danke Ihnen, Inspektor.", meinte Raoul und reichte dem Engländer die Hand, als plötzlich dessen Kollege den Raum betrat.

"Sehen Sie mal Inspektor Smith, das habe ich in der Kammer der Zofe gefunden.", sagte er und reichte seinem Vorgesetzten den Zettel, dieser nahm ihn entgegen und las das Papier eilig durch.

"Interessant. Äußerst interessant.", murmelte der Inspektor und schaute dabei Raoul an. "Ihre Zofe hat scheinbar von jeder Besorgung, die sie im Auftrag ihrer Verlobten tätigte einen Geldbetrag abgezweigt.", erklärte er dem Vicomte.

"Das glaube ich nicht, das Mädchen steht schon seit einigen Jahren in meinen Diensten und hat noch nie gestohlen. Das hat sie nicht nötig, ich bezahle alle meine Angestellten überdurchschnittlich.", protestierte Raoul und wollte augenblicklich die Liste sehen.

"Das mag ja sein, aber die Liste ist eindeutig. Vor zwei Wochen hat sie hier sogar vermerkt "Betrag beisammen", und es handelt sich um einen beträchtlichen Betrag, weit über hundert Pfund. Und dann hat sie hier noch was geschrieben, ganz klein am Rand.", meinte er, während er sein Vergrößerungsglas aus der Tasche holte. "Ich kann es nicht genau entziffern, aber es handelt sich scheinbar um Quarantänevorschriften für Katzen zwecks einer Überfahrt nach Amerika.", entzifferte der Inspektor mühsam kleine die Inschrift auf dem Rand der Liste.

Raoul wurde mit einem Mal kreidebleich, plötzlich wurde ihm alles klar. Das Verschwinden der verdammten Katze, die Schuhe, die Christine unbedingt in Dover hatte kaufen und heute abholen wollen. Sie war auf dem Weg zu ihm. Raoul konnte es nicht glauben, wie konnte sie ihn nur derart hintergehen, er hatte immerhin sein Leben für sie riskiert und nun verriet sie ihn auf so hinterhältige Art und Weise.

"Ich denke meine Herren, ich weiß nun, wo ich meine Verlobte finden kann.", meinte er und hatte Mühe seinen Groll unter Kontrolle zu halten, als er die beiden Männer zur Tür begleitete. Die beiden Polizisten schauten sich verblüfft an, als sie die Worte des jungen Mannes hörten.

"Sie brauchen nicht weiter nach ihr suchen lassen, ich werde noch heute nach Dover fahren und dort die nächste Passage nach New York nehmen. Ich bedaure Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet zu haben.", sagte er noch immer ruhig und verabschiedete die beiden Polizisten. Zwei Stunden später saß er in einer bequemen Reisekutsche und war auf dem Weg nach Dover. Er würde allein nach New York fahren, vielleicht würde er sogar noch ihr Schiff einholen, doch auf jeden Fall, würde er Christine zur Rede stellen. Er würde es nicht hinnehmen, dass sie ihn einfach so sitzen ließ, schon gar nicht, wenn der Mann für den sie ihn sitzen ließ, derart abstoßend hässlich war, wie Erik.

* * *

Es war schon lange dunkel, der Himmel war mittlerweile so schwarz wie die See und nur die Sterne erhellten den Nachthimmel schwach. Christine stand immer noch an Deck und blickte nun gen Westen, nachdem sie den ganzen Nachmittag ängstlich nur nach Osten geblickt hatte.

"Irgendwo dort liegt meine Zukunft.", flüsterte sie in die Nacht hinaus, in nicht ganz zwei Wochen würden sie New York erreichen, hatte der Kapitän zu ihr gesagt, als sie danach gefragt hatte.

Es war kühl, der Nachtwind zerrte an ihren Haaren, doch sie konnte nicht in ihre Kajüte gehen, sie hatte Angst. Angst, das sie den Moment verpassen würden, indem sie New York erblickte. Angst, das Raoul ihr folgen und sie einholen könnte. Christine war sich ziemlich sicher, dass Raoul ihr hinterher fahren würde, diese Schmach würde er nicht einfach so auf sich sitzen lassen. Diese Niederlage gegen Erik würde er nicht so einfach hinnehmen.

"Mademoiselle. Es wird kalt, sie sollten unter Deck kommen.", versuchte Minette Christine ins Warme zu locken.

*

Christine saß in einem bequemen Stuhl an Deck und genoss die Sonne. Seit fast zwei Wochen war sie nun schon unterwegs und kein Schiff hatte sie eingeholt. Erleichtert blickte sie ihre Katze an und kraulte sie, worauf Ayesha genüsslich schnurrte und die Augen schloss. Oft hatte sich Christine vorgestellt, was sie zu Raoul hätte gesagt, hätte dieser ihr Schiff eingeholt und sie zur Rede gestellt, doch nun, wo sie New York so nahe war, waren ihre Gedanken nur bei Erik, wie würde er reagieren, wenn sie wieder vor ihm stehen würde.

"Mademoiselle, wie werden wir diesen Mann eigentlich finden, den sie lieben?", riss Minette Christine aus ihren Gedanken. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht, sie kannte nur einen Namen "Jules Bernard", nach diesem Namen würde sie suchen und ihn dann bitten ihr zu helfen, zu Erik zu gelangen.

"Ich kenne nur einen, der uns da helfen kann und das ist Monsieur Jules Bernard. Wir müssen ihn finden, denn wo er ist, wird auch Erik sein.", meinte sie und gesellte sich zu Minette an die Reeling. Seit Christine sich ihr anvertraut hatte, waren sie Freundinnen geworden, doch nun, wo sie beide nach New York gingen, zwei junge Frauen, waren sie beinah wie Schwestern geworden und doch hatte sie ihr nicht die ganze Wahrheit gesagt.

"Minette, ich muss dir etwas sagen, etwas sehr wichtiges.", begann Christine, ihr Gewissen ließ ihr einfach keine Ruhe, sie musste es ihr jetzt sagen, ihr jetzt die Wahl lassen. Minette schaute Christine nur erwartungsvoll an. "Es ist wegen Erik."

"Das ist der Mann, den sie lieben."

"Ja, Minette. Er ist nicht wie andere Männer. Wie soll ich dir das erklären, ohne, dass ich dich verschrecke."

"Mademoiselle, so schlimm kann es nicht sein. Sagt es mir einfach.", entgegnete Minette unschuldig.

Oh, wenn du wüsstest Minette, wie schlimm es ist, dachte sich Christine traurig und überlegte, wie sie ihr Eriks Gesicht so schonend wie möglich beibringen konnte. Eine Weile überlegte sie und entschied sich für die schohnungslose Wahrheit.

"Er sieht aus wie ein lebender Toter.", sagte sie und beobachtete Minette.

Minette sah bei Christines Worten auf das Meer hinaus und schluckte schwer. Eine Weile war ihr Kopf leer und wusste nicht was sie sagen sollte. Sie schwieg und blickte auf das Meer, erst nach einer Weile lenkte sich ihr Blick zu Christine, die sie anschaute.

"Du musst nichts sagen, Minette, es bleibt dir überlassen, ob du mit mir mitkommst, wenn wir das Schiff verlassen, oder ob du deinen eigenen Weg gehen willst.", meinte Christine, sie wusste sie konnte nicht von Minette verlangen bei ihr zu bleiben und sie wusste nicht einmal, wie Erik auf Minette reagieren würde, sie konnte auch von ihm nicht verlangen, das Mädchen zu aktzeptieren. Es gab soviel woran sie nicht gedacht hatte, aber da sie ahnte, dass sie nicht sofort Erik wiedersehen würde, würde ihr wohl noch etwas Zeit bleiben, darüber nachzudenken.

* * *

Raoul hatte das beste Schiff gechartet, das er in der kurzen Zeit hatte finden können und nun war er auf dem Weg Christine zurückzuholen, egal wie, aber er würde sie nicht gehen lassen, diese Schmach, wäre einfach zu groß. Seine Freunde, würden ihm dann immer vorhalten, dass sie ja gleich gewusst hatten, dass sie wie jede andere Frau von der Oper ist: käuflich, solange man ihr genug bot. Und auch wenn man ihm, diesen Ausrutscher verzeihen würde, so wollte er Christine haben, denn auf keinen Fall konnte er sich von einem Mann wie Erik schlagen lassen, wenn es um die Liebe einer Frau ging.

Er hatte dem Kapitän eine ungeheurig hohe Summe geboten, wenn er das Schiff mit voller Kraft fahren lasse, um so schnell wie möglich New York zu erreichen. Dieser hatte das Geld sofort angenommen und jagte sein Schiff regelrecht über den Ozean, doch ein überraschend aufkommender Sturm hatte Raoul´s Schiff daran gehindert, Christine zu erreichen. Und dann war auch noch einer der Kessel für die Dampfmaschine kaputtgegangen und so war er gefangen auf dem Ozean und musste hinnehmen, dass Christine Erik erreichen würde, noch bevor er sie selbst zur Rede stellen konnte.

Raoul stand an Deck und blickte zornig nach Westen und fragte sich, was er getan hatte, dass das Schicksal es so schlecht mit ihm meinte.

"Warum hab ich sie nicht gleich bei dem Monster gelassen, das hätte mir ne Menge Ärger erspart.", murmelte Raoul wütend vor sich hin und ballte seine Hände zu Fäusten. Er konnte noch immer nicht fassen, das Christine ihn verlassen hatte, um zu Erik zu fahren, er verstand es nicht, was hatte dieses Ungeheuer, was er nicht hatte. Er schwor sich, wenn er Erik noch einmal begegnen würde, würde er ihn zu einem Duell herausfordern und ihn dorthin befördern wohin er gehörte: in die Hölle. Und dann würde er Christine nehmen, sie heiraten und das von ihr verlangen, was ihm zustand und dann, wenn sie ihre Pflicht erfüllt hatte, würde er ihr erlauben, zu tun, was sie wollte, während er sich auf seine Weise amüsierte, doch auf keinen Fall wollte er dem Spott der Gesellschaft von London und Paris ausgesetzt sein. Er hatte allen gesagt, dass er sie heiraten würde, also hatte sich Christine daran zu halten und ihn zu heiraten.

* * *

Jules erwachte am Morgen, nach Eriks Selbstmordversuch und schaute, kaum, dass er sich angekleidet hatte, nach Erik. Er rechnete damit, dass der noch melancholisch in die Leere starren würde, doch das was er nun sah, als er das Arbeitszimmer betrat, überraschte ihn. Erik stand, so als wäre nichts geschehen, über einem neuem Entwurf und arbeitete. Er schien nicht geschlafen zu haben, denn er trug noch immer den selben Anzug, wie am Vortag.

"Erik, ist alles in Ordnung?", fragte er besorgt und trat an Erik heran.

"Ja, wieso frragst du?"

Jules konnte es nicht glauben, noch gestern hatte sich Erik das Leben nehmen wollen und nun schien er sich an nichts mehr zu erinnern.

"Es wundert mich nur.", meinte Jules und schielte auf die Bandagen um Eriks Handgelenk.

Erik bemerkte, das Jules auf sein Handgelenk schaute und räusperte sich. "Ich weiß nicht, ob du es verstehst, aber ich liebe sie mehr als mein Leben. Ohne sie ist es sinnlos, egal wieviel Arbeit ich habe."

Jules wusste nicht, was er Erik sagen sollte, um ihm Hoffnung zu geben. Er wusste selber nicht, warum er glaubte, dass es für Erik Hoffnung gab, doch irgendetwas sagte ihm, dass es immer Hoffnung gab, solange man sich nicht aufgab.

"Hast du den Mond letzte Nacht gesehen?"

"Er war nicht zu übersehen, Jules, nur selten ist er blutrot.", entgegnete Erik verwundert über Jules' Themenwechsel.

"Meine Großmutter hat mir einmal gesagt, wenn der Mond blutrot am Himmel steht, dann wendet sich das Schicksal zu Gunsten derer, die Leiden."

"Wenn du meinst.", sagte Erik kühl, er konnte nicht glauben, dass es für ihn auch nur irgendeine Hoffnung geben könnte, Christine bei sich zu haben, schließlich war sie längst die Vicomtesse de Chagny.