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XIV. Suche

Seit zwei Wochen war Christine nun schon in New York, gleich nach ihrer Ankunft, noch ehe sie ein Hotelzimmer bezogen hatte, hatte sie eine Suchanzeige in  der New-York Daily Times, einer der großen New Yorker Tageszeitungen gesetzt, doch bisher war ihre Suche erfolglos gewesen. Niemand schien mit der Beschreibung des von ihr gesuchten Mannes etwas anfangen zu können. Jules Bernard, der sonst immer die New-York Daily Times las und interessante Artikel an Erik weiterreichte, hatte in den vergangenen Wochen keine Zeit dafür gefunden, da er für Erik etliche Besorgungen zu tätigen hatte und auch noch darauf acht gegeben musste, das er sich nicht erneut etwas antat, um mit dem Verlust von Christine Daaé fertig zu werden. Jeden Tag wartete Christine sehnsüchtig darauf, das sich jemand bei ihr meldete und ihr einen Hinweis auf Eriks verbleib brachte, doch niemand kam.

Christine hatte nur wenig Geld bei sich als sie New York erreicht hatte, also war sie gezwungen, sich die Mittel zu erarbeiten, die sie benötigte. Minette hatte die Möglichkeit im Hotel, in dem sie residierte auszuhelfen und sie selbst hatte bereits bei einigen Theatern vorgesprochen und hoffte, das man dort eine Sopranistin suchte. Eine Woche lang hatte sie vergeblich bei den Direktoren vorgesungen, doch nun endlich hatte sie etwas Glück gehabt, als sie am Grand Opera House hatte vorsingen dürfen. Das Grand Opera House war eines der elegantesten Theater der Stadt in dem sich beinah allabendlich die feine Gesellschaft der Stadt traf, um gesehen zu werden, Kontakte zu knüpfen und seinen Wohlstand zu präsentieren. Thomas Clarkson, der Direktor des Hauses hatte sie auf der Stelle engagiert, denn man suchte dringend eine Sopranistin, da die bisherige mit einer Erkältung im Bett lag und die Zweitbesetzung ebenfalls indisponiert war. Und da Christine glücklicherweise auch die Rolle der Desdemona aus Othello parat hatte, hatte man sie freudig genommen, denn es hieß, das New Yorks Stararchitekt die heutige Vorstellung besuchen wollte und da wollte man die Vorstellung unter keinen Umständen absagen. Nun saß Christine in ihrer Garderobe und bereitete sich auf die Vorstellung vor.

Sie erinnerte sich noch gut an jenen Abend, an dem sie gemeinsam mit Erik das Duett von Desdemona und Othello gesungen hatte und sie wünschte sich so sehr, dieses Duett wieder mit ihm zu singen. Als ihre die neuen Kolleginnen erzählten, dass der Stararchitekt der Stadt am heutigen Tag im Saal sein würde, hatte sie die anderen neugierig gebeten etwas über diesen Mann zu erzählen, aber niemand wusste etwas, denn er zeigte sich nie in der Öffentlichkeit. Christine hingegen, glaubte plötzlich zu wissen, wer sich hinter dem Stararchitekten verbarg, zumindest hoffte sie, das er es war, den sie suchte. Die junge Frau wurde nervös, schließlich hatte sie lange nicht mehr auf einer Bühne gestanden und versuchte sich an all die Lektionen zu erinnern, die ihr Engel der Musik ihr erteilt hatte, während einer der Garderobieren ihr half, in ihr Kostüm zu kommen.

*

Erik hatte Jules aus ihm noch immer unerklärlichen Gründen gebeten eine Loge im Grand Opera House zu reservieren und dafür zu sorgen, dass man ihn auf keinen Fall sehen würde. Für gewöhnlich ging er nicht weg, schon gar nicht in ein Theater, obwohl er sehr gerne der wundervollen Opernmusik lauschte, mied er die Öffentlichkeit und spielte sie für sich allein. Doch heute wollte er raus, er wollte ein großes Orchester erleben, Sänger und Sängerinnen die sangen und Tänzerinnen die sich im Takt der Musik bewegten.

Jules hatte anfangs misstrauisch geschaut und hatte schon befürchtet, Erik könne einen Rückfall erleiden und womöglich sich ein neues "Opfer" seiner Fähigkeiten aussuchen und erneut eine Sängerin entführen und bei sich behalten wollen. Doch nachdem ihm Erik versichert hatte, nur eine Vorstellung besuchen zu wollen, um eine Oper mit großem Orchester und allem was dazu gehörte zu genießen, hatte sich Jules beruhigt und hatte sich um alles weitere gekümmert. Er hatte das Theater genaustens inspiziert und hatte mit dem Direktor vereinbart, das Erik den Hintereingang nehmen konnte und in seine Loge schleichen konnte, und für das Schweigen des Theatermanagers hatte Jules schon gesorgt, indem er meinte, das, wenn man Eriks Theaterbesuch an die Öffentlichkeit gelangen lassen würde, würde man nie wieder dieses Theater aufsuchen. Der Direktor hatte absolutes Schweigen versprochen und hatte nur seine neue Sopranistin eingeweiht, damit sie sich von ihrer besten Seite zeigen würde, schließlich hoffte er, das dieser geheimnisvolle Stararchitekt der gehobenen Kreise noch oft in seinem Theater ein- und ausging.

Eine halbe Stunde vor Einlass fuhr Erik in einer dunklen Kutsche am Theater in der 8th Avenue vor und schlich sich verstohlen und vermummt in seine Loge. Das Programmheft, das bereits für ihn ausgelegt war, ignorierte er zunächst, denn er wollte die Theaterluft in sich aufnehmen, wie sehr er das doch vermisst hatte. In der Hinsicht war es in Paris nicht schlecht gewesen, im Opernhaus zu wohnen, auch wenn er dort kein Tageslicht hatte und immer hatte aufpassen müssen, von niemandem gesehen zu werden, um seinem Ruf als Phantom gerecht zu werden. Er erinnerte sich, wie er bei einem seiner Streifzüge Christine entdeckt hatte und ihr seit jenem Abend Gesangsstunden erteilt hatte, um ihre Stimme dem Himmel entgegen zu heben.

Der Saal füllte sich allmählich, doch niemand würde ihn sehen können, denn die Loge hatte glücklicherweise Vorhänge, die er hatte zuziehen können. Nur einen Spalt breit hatte er offen gelassen, um die Inszenierung sehen zu können, so würde er raussehen können, aber niemand würde hereinsehen können. Im Saal wunderte man sich über die zugezogene Loge, aber niemand konnte etwas sagen, wer dort war und da die Tür verschlossen war, konnte man auch nicht einfach mal hineingehen und nachsehen.

Schließlich erloschen die Lichter, die Besucher nahmen Platz und der Vorhang öffnete sich. Das Orchester begann und erst jetzt nahm Erik das Programm zur Hand und studierte es, im schummrigen Licht, das aus dem Vorraum seiner Loge in die Loge hineindrang, während die Ouvertüre erklang. Als er bei der Besetzungsliste ankam, fiel ihm das Programm beinah aus der Hand, als er den Namen der Sopranistin für die Rolle der Desdemona las: Christine Daaé.

"Das kann nicht sein.", murmelte Erik halb verzweifelt, doch auch halb hoffend. Das Schicksal konnte es einfach nicht so grausam mit ihm meinen. Er wollte raus, er wollte hinter die Bühne und sehen, ob sie es war, oder nur eine Namensvetterin. Doch er hielt sich zurück und redete sich ein, das dies womöglich nur ein identischer Name war, denn sein Engel war längst die Vicomtesse de Chagny und der Vicomte würde sicherlich nicht dulden, dass sie ausgerechnet in New York auf einer Bühne stand oder überhaupt auf einer Bühne, schließlich war dies ein unziemlicher Beruf für eine Dame der Gesellschaft.

*

Christine hatte, während sich der Saal gefüllt hatte, durch ein kleines Loch im Vorhang die Leute angesehen, die die Vorstellung besuchten und dabei war ihr eine Loge aufgefallen, bei der die Vorhänge zugezogen waren. Sie vermutete das dies gewiss die Loge des geheimnisvollen Gastes war und hoffte inständig, dass der Gast wirklich ihr Engel der Musik war und sie flehte alle Schutzgötter der Musen an, das sie ihn nicht enttäuschen würde. Als dann das Orchester einsetzte, war sie wieder in die Kulissen verschwunden und wartete nun auf ihren ersten Auftritt.

Die erste Textpassage der Desdemona begann und Christine sang, wie an jenem Galaabend zum Abschied der beiden alten Direktoren der Pariser Oper. Sie sang ihre Seele aus dem Leib und offenbarte sie Erik, der in seiner Loge erstarrte.

Sie war es, sie war es tatsächlich. Er fragte sich, was geschehen war, das sie scheinbar nicht verheiratet war, denn er konnte an ihrer rechten Hand, weder einen Ring sehen, noch hatte er den Vicomte im Saal erblicken können. Er fragte sich, was passiert war, das sie hier war und wieder als Opernsängerin arbeitete und nicht ihr Leben an der Seite ihrer Jugendliebe verbrachte. Mit Genuss stellte er fest, das sie keine, seiner Lektionen vergessen hatte und er bemerkte, das sie ihre Seele, ihr ganzes Ich darbot, und mit größter Genugtuung bemerkte, er die wachsende Begeisterung des Publikums für die hier noch unbekannte Sängerin, deren Stimme er geformt und in die höchsten Weihen der Musik eingeführt hatte.

Ihr Anblick ließ ihn einfach nicht mehr los, wann immer Desdemona einen Auftritt hatte, lehnte er sich weiter nach vorne, um sie besser sehen zu können. Während der gesamten Vorstellung begann sein Geist erneut Schlösser zu bauen, und Schlossherrin würde Christine sein, inständig flehte er zu Gott, dass sie seinetwegen gekommen war, das sie gekommen war, um ihre Entscheidung zu ändern und bei ihm bleiben wollte. All die stillen Momente der unbemerkten Berührungen loderten wieder in ihm auf und entfachten das Feuer seiner Liebe erneut, er spürte wieder ihre weichen Lippen auf den seinen, als sie ihn ein einziges Mal geküsst hatte, ehe er sie freigegeben und mit dem Vicomte fortgeschickt hatte.

Seine Augen verfolgten jede ihre anmutigen Bewegungen, jede einzelne Mimik brannte sich in ihm ein, so als fürchte er sie endgültig und für alle Zeit zu verlieren. Und dann geschah es, ihr Blick blieb auf seiner Loge haften und sie glaubte ihn wirklich sehen zu können, zumindest bildete sich dies Christine ein, denn es war ihr sehnlichster Wunsch, von ihn zu sehen. Genau in diesem Moment, wo sich unscheinbar ihre Blicke trafen, patzte sie, für Musiklaien unmerklich, doch Erik bemerkte es augenblicklich, wie die Nuance ihre Stimme leicht schwankte. Christine war nach diesem Patzer, der ihr nicht hätte passieren dürfen, ihr jedoch unterlaufen war, weil sie einfach so froh war, Erik erblickt zu haben, sofort nach ihrem Auftritt hinter der Bühne und verschwand. Sie bestellte sich eine Droschke, die sie augenblicklich nach dem Schlussapplaus in ihr Hotel bringen sollte.

Erik hatte bemerkt, wie ihr ein kleiner, für die übrigen Besucher unmerklicher, "Fehler" unterlaufen war, als sie zu seiner Loge aufgeschaut hatte. Unbedingt wollte er sie in ihrer Garderobe aufsuchen, doch im Moment kam er nicht ungesehen aus seiner Loge heraus, denn wenn man ihn irgendwie erblicken würde, würde er nicht an sein Ziel gelangen, er musste also warten, bis alle gegangen waren.

Endlich, nach einer unendlich scheinenden Zeit, war die Vorstellung vorüber und die Sänger und Sängerinnen, kamen zum Schlussapplaus auf die Bühne. Das Publikum bejubelte Christine und warf ihr Blumen zu und auch Erik applaudierte ihr stehend in seiner Loge, denn ihre Stimme war wirklich unglaublich gewesen, Tränen der Freude und des Stolzes rannen unter seiner Maske über sein Gesicht, so sehr rührte ihn ihre Stimme und er war so glücklich, ihre Stimme wieder hören zu können.

Christine hatte sich hastig nach dem Schlussapplaus umgezogen und war zu ihrer wartenden Droschke geeilt, um in ihr Hotel zu fahren. Obwohl sie ahnte, das Erik, wenn er wirklich in der verdunkelten Loge gesessen hatte, sie aufsuchen würde. Doch am heutigen Abend war sie einfach nicht in der Lage, seine Kritik über ihren winzigen Patzer, die unweigerlich kommen würde, zu ertragen.

Endlich bekam Erik von Jules das Zeichen, das er nun unbemerkt in den Kulissenbereich und damit zu den Garderoben der Künstler gelangen konnte. Ihm war es wie Stunden vorgekommen, die seit dem Schlussapplaus vergangen waren und dabei war es gerade mal eine halbe Stunde her, da sich seine geliebte Christine vor dem Publikum verneigt hatte und mit Blumen geradezu überhäuft worden war. Er eilte zu ihrer Garderobe, fand sie jedoch schon leer vor. Der Direktor trat kurz nach ihm ein, um seiner neuen Künstlerin für diesen Triumph zu gratulieren und ihr einen festen Vertrag anzubieten, aber auch er kam zu spät, sein neuer Star war bereits fort.

"Wo wohnt sie?", erkundigte sich Erik unvermittelt mit gebieterischer Stimme.

Mr. Clarkson beäugte den Gast und ahnte, dass dies der Stararchitekt der reichen Gesellschaft war. Er wirkte erhaben, respekteinflößend, wie er so vor ihm stand, erhobenen Hauptes und in einem Frack aus exquisitesten Tuch gefertigt. Seine Stimme klang befremdlich mit dem leichten französischen Akzent, doch sie wirkte auf ihre Art himmlisch freundlich, trotz des energischen Tonfalls, den der Fremde ganz automatisch angeschlagen hatte

"Ich weiß es nicht, sie hat keine Anschrift hinterlassen.", sagte der Direktor entschuldigend und beäugte nun die schwarze Maske, die das Gesicht seines Gegenübers verbarg. Thomas Clarkson bemerkte nicht einmal, wie ein weiterer Mann die Garderobe der jungen Sängerin betrat.

"Jules, finden Sie Christine.", meinte er kühl und verließ das Theater. Er verstand einfach nicht, warum sie gegangen war, ohne seinen Besuch auch nur abzuwarten. Warum war sie hergekommen, wenn sie ihn doch nicht sehen wollte, warum war sie hier, wenn sie dann doch wieder vor ihm davon lief. Auf dem gesamten Heimweg fragte er sich, was mit ihr los war, er fragte sich sogar, ob dies die Wirklichkeit war, oder ob er vielleicht nur einer Sinnestäuschung erlegen war.

"Ayesha, sie ist hier, sie muss es einfach sein, ansonsten wäre das Leben wirklich mehr als grausam.", begrüßte Erik seine Katzendame, die aufgeregt auf ihn zu kam, als er das Haus betrat, das nun fast fertig war, lediglich die Räume im oberen Geschoss waren noch im Rohbau, alles andere war bereits bewohnbar. "Sie ist tatsächlich hier.", meinte er zu ihr und wirbelte mit ihr auf dem Arm durch die Eingangshalle.

*


Christine erreichte ihr Hotel und hastete auf ihr kleines Zimmer. Sie trat an das große Fenster heran und bemerkte nicht einmal, wie Minette ebenfalls das Zimmer betrat.

"Und, wie ist es gelaufen?", erkundigte sich das Mädchen aufgeregt, doch Christine schien sie nicht zu hören, den sie sagte nichts, sondern starrte nur hinaus in die Dunkelheit.

"Mademoiselle? Ist alles in Ordnung?"

"Er war da.", brachte Christine schließlich hervor und verbarg plötzlich ihr Gesicht in ihren Händen und weinte bitterliche Tränen. Minette trat tröstend an Christine heran und versuchte sie zu trösten.

"Hat er sie abgewiesen?", fragte sie leise, doch Christine schüttelte nur den Kopf.

"Ich konnte ihm nicht gegenübertreten."

"Aber warum nicht? Ihr seit den ganzen Weg von London nach New York gefahren, habt ein gesichertes Leben, beim Vicomte entsagt.", entgegnete Minette im beinah vorwurfsvollen Ton.

"Ich weiß, aber ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe bei einer Passage gepatzt und ich würde seine Kritik heute einfach nicht ertragen.", erklärte sie mit trauriger Stimme.

*

Schwer seufzte Jules bei seiner neuen Aufgabe, wie sollte er nur in dieser großen Stadt eine junge Frau finden, die wahrscheinlich noch nicht lange hier und somit allen gänzlich unbekannt war. Er konnte nicht hoffen Christine Daaé so bald zu finden und wusste genau, das er ohne die junge Frau bei Erik gar nicht erst erscheinen brauchte, also fuhr er sofort zum Hafen, um sich eine genaue Liste aller dort registrierten Hotels zu geben. Inständig hoffte er, dass die junge Frau noch in einem Hotel lebte, denn andernfalls konnte er nur beten, das sie wieder ins Theater kam, ansonsten würde seine Suche wohl wie die Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen sein, eine ziemlich hoffnungslose.

Der freundliche Beamte am Schalter schaute Jules Bernard zwar etwas befremdlich an, stellte dann jedoch, nachdem Jules ihm einen kleinen Obolus zugesteckt hatte, eine ausführliche Liste aller Hotels zusammen, in denen Neuankömmlinge für gewöhnlich abstiegen. Während Jules auf die gewünschte Liste wartete, schickte er einen Boten zu seiner Familie, damit sich seine Frau keine Sorgen machte, denn eigentlich wollte er ja längst zurück sein.

Es dauerte eine ganze Weile, bis der Beamte ihm die gewünschte Liste aushändigen konnte und kaum, das Jules die Liste in seinen Händen hielt, begann er seine Suche. Wie er von Erik wusste, war sie mit dem Vicomte de Chagny verlobt gewesen, also ging er davon aus, dass sie doch einiges an Geld bei sich hatte und wahrscheinlich auch in einem der nobleren Hotels residierte. So machte er sich auf den Weg zu den besten Hotels der Stadt, bis zum Morgengrauen, wollte er dann wieder am Theater sein und dort auf sie warten, schließlich hatte sie noch keine Gage für ihren Auftritt erhalten und die würde sie gewiss abholen wollen.

*

Während Jules in der Stadt nach Christine suchte und sich Christine wach in ihrem Bett wälzte, stand Erik auf der Terrasse seines Anwesen und blickte hoffend in den Sternenhimmel. Zum ersten Mal empfand er so etwas wie Frieden, der sich in ihn ausbreitete, denn nun wusste er, was er die ganze Zeit geahnt hatte, der Schlüssel zu seinem Seelenfrieden war neben Musik und die Kunst vor allem Christine. In seinen Gedanken durchwanderte er alles, was geschehen sein könnte, weshalb sie nach New York gekommen war. Er konnte sich und wollte sich nicht vorstellen, das der Vicomte womöglich nicht gut zu ihr gewesen waren, jedoch machte sie nicht den Eindruck, dass man sie geschlagen hätte, anderseits wären derlei Zeichen wohl längst abgeklungen, schließlich hatte die Überfahrt sicherlich mindestens zwei Wochen gedauert. Erik fragte sich, ob sie Raoul gelangweilt hatte, oder sie ihn, aber was er einfach nicht verstand, war der Grund weshalb sie das Theater so übereilt verlassen hatte, sie hatte sogar ihre Handtasche dort vergessen. Er hatte sie an sich genommen, doch nichts von ihrem Inhalt konnte ihm verraten, wo sie wohnte. Er betete zu Gott, was er nicht sehr oft tat, das Jules seinen Engel finden und zu ihm bringen würde. Und immer wieder kehrten seine Gedanken zurück zu jenem unglückseligen Moment, indem er sie fort geschickt hatte. Rückblickend verstand er sich selber nicht, warum er dies getan hatte, er liebte sie und hätte er nicht bemerken müssen, dass sie seine Gefühle erwidern könnte. Doch er hatte es nicht bemerkt, denn nicht einmal Christine hatte in jenem Augenblick ihre Gefühle gekannt. Noch lange stand er auf seiner Terrasse und blickte in den Garten und beobachtete Ayesha, die im Garten spazierte.

Müdigkeit überfiel ihn, doch er war außerstande zu Bett zu gehen, denn er würde ohnehin keinen Schlaf finden, zu viele Gedanken wirbelten in seinem Kopf und ließen ihn einfach nicht zur Ruhe kommen. Selbst als der Morgen graute, stand er noch immer draußen und betrachtete die aufgehende Sonne und das mystische Lichtspiel, das jeden Sonnenaufgang begleitete und seinen Garten in einen warmen goldroten Licht tauchte.

Er musste etwas tun, nur untätig herumstehen brachte ihn nicht weiter, so entschied er zum Theater zurückzufahren. Er wollte dort warten und den Direktor bitten, seine Künstler zu fragen, ob diese irgendetwas von Christine wussten. Hastig kleidete er sich in einen herrlichen Gehrock, zudem er einen bordeauxrote Seidenweste trug, er wusste, dass sein eleganter französischer Stil sich vom alltäglichen schlichten New Yorker Stil abhob. Eine Stunde später hielt er eine Droschke an und war auf dem Weg in die Stadt.

"Broadway, Ecke 8th Avenue, bitte.", wies er den Kutscher an und verfiel wieder in seine Grübeleien über Christines mehr als merkwürdiges Verhalten.

Eine halbe Stunde später erreichte Erik das Theater und traf auf Jules, der gerade von seiner Suche in den Hotels der Stadt zurückkehrte.

"Und haben Sie Christine gefunden?", erkundigte er sich, ohne Jules zu grüßen.

"Guten Morgen. Bedaure noch nicht. Ich hoffte, Mademoiselle würde vielleicht ins Theater zurückkommen.", meinte Jules.

"Schon gut. Sie sehen müde aus, Sie sollten ein wenig schlafen. Ich werde selber hier im Theater auf Christine warten.", erklärte er und schickte Jules nach Hause. "Hoffentlich kommt sie noch einmal her.", sagte Erik zu sich selbst und ging ins Theater.

* * *

Christine hingegen hatte eine unruhige Nacht hinter sich und erwachte erst gegen Mittag und fühlte sich gerädert. Lange hatte sie nicht einschlafen können und hatte sich gefragt, ob sie ins Theater zurückgehen sollte oder nicht. Am Ende hatte sie sich erst einmal dagegen entschieden, warum, das wusste sie auch nicht. Sie verstand sich nicht, sie wollte zu ihm und doch konnte sie nicht zu ihm, denn sie fürchtete, er würde sich nicht freuen, da ihr ein Patzer während der gestrigen Vorstellung unterlaufen war.

Während sich Christine ankleidete und frisch machte, besorgte Minette ein kleines Frühstück im Restaurant des Hotels. Am Empfang, wo sie nach dem Frühstück fragte, bemerkte sie einen Franzosen, der sie ständig musterte. Ihr war so, als hätte sie den Mann schon einmal gesehen, doch sie konnte sich nicht erinnern wann und wo.

"Miss. Das Frühstück für sie und Miss Daaé ist fertig.", vermeldete der Hotelpage am Empfang. Auch Jules Bernard hörte die Nachricht für das junge Mädchen und traute seinen Ohren nicht, als er den Namen hörte. Minette ging gerade in Richtung des Restaurants, da wagte er es sie anzusprechen.

"Mademoiselle, verzeihen Sie, wenn ich es wage, Sie einfach so anzusprechen. Ich bin Monsieur Jules Bernard. Ich hörte soeben den Namen Daaé. Ist die Dame zufällig die junge Sängerin, die am gestrigen Abend im Grand Opera House gesungen hat?", erkundigte er sich.

Minette war freudig überrascht so höflich begrüßt zu werden, die meisten Amerikaner hatten wesentlich wenige Anstand.

"Guten Tag. Ja die Dame ist Christine Daaé, kann ich etwas von Ihnen ausrichten?"

"Nun, wenn es möglich ist, würde ich gerne mit der jungen Dame reden. Monsieur Erik schickt mich, Mademoiselle zu suchen."

Als der Name Erik fiel, traf sie ein Blitz, nun wusste sie, wo sie ihn schon einmal gesehen hatte, am Tag ihrer Abreise nach Dover auf dem Schiff das nach New York ging. Eine Moment überlegte sie, dann entschied sie jedoch, diesen Mann zu Christine vorließ, es wäre gewiss in ihrem Interesse. Rasch holte sie ihr Frühstück und führte den Mann dann in ihr bescheidenes Zimmer.

Jules war überrascht, die Sängerin in diesem äußerst einfachen Hotel zu finden, es lag in einer Seitenstraße in der Nähe der Grand Opera und wirkte recht unscheinbar. Nur aus Gutdünken hatte er dieses Hotel aufgesucht und hatte sich nach der jungen Dame erkundigen wollen, als ihm das Schicksal zuvor kam.

Wenig später stand er zum zweiten Mal in seinem Leben Christine Daaé gegenüber. Bei seiner letzten Begegnung mit ihr, hatte er ihr ein Päckchen Morphium für Erik mitgegeben. Als Christine ihn überrascht ansah, erblickte er an ihrer Hand jenen Ring, den er einst in Eriks Auftrag für sie besorgt hatte.



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