Im Kamin der Bibliothek knisterte das Feuer und züngelnd erhoben sich die Flammen. Auf dem Tischchen neben dem Kanapee loderten die Kerzen und verströmten eine behagliche Atmosphäre. Im ganzen Haus war es ruhig, nur aus der Küche hörte man, wie aus weiter Ferne, das Personal das Dinner für den heutigen Abend vorbereiten.Raoul war gleich nach dem Frühstück zum Drucker gefahren, um die Einladungskarten für die Hochzeit abzuholen und wo er schon mal in der Stadt war, wollte er noch einige andere Dinge erledigen. So saß Christine nun, über ihre Handarbeit gebeugt, am Kamin und genoss die Ruhe. In den vergangenen Tagen und Wochen war sie nie zur Ruhe gekommen. Entweder der Schuster war hier gewesen um ihre Schuhe zur Anprobe zu bringen oder die Schneiderin war hier um ihre Kleider zu bringen. Sogar einige Juweliere waren vorstellig geworden, aber nun hatte sie endlich Ruhe. Heute würde niemand zu ihr kommen.
Die Spitze war fast fertig, als Christine zum wiederholten Male die Augen schmerzten. So tat sie ihre Handarbeit für einen Moment bei Seite, erhob sich und schritt durch den Raum. „Die Bibliothek würde Erik gewiss auch gefallen.“, murmelte sie leise vor sich hin, während sie an den Regalen vorbeischritt und ab und zu eines der Bücher herauszog, sie jedoch nach einem kurzen Blick auch wieder zurücktat. Doch nun hielt sie ein kleines, in rotem Samt gebundenes, Buch mit Goldinschrift in Händen.
>>Die Märchenwelt des Orients<<
Wie oft hatte Erik ihr an den langen Abenden bei ihm am Kaminfeuer orientalische Märchen erzählt. Geschichten von traurigen Prinzessinnen, von Helden, von Wunderlampen und guten Geistern. Er hatte ihr in den schillerndsten Farben von diesen geheimnisvollen Ländern berichtet und jedes Mal versank sie in dieser Welt und stellte sich vor dort zu sein und Erik würde ihr dann alle Wunder des Orients enthüllen.
Christine schlug das Buch auf und wie von selbst blätterten die Seiten um zu einer Geschichte, die Christine schon kannte. Eine Geschichte die sie unendlich schön fand und nach der sie sich gewünscht hatte, eine mutige Blume zu sein, die sich ihrem Liebsten hingibt. Ein wenig wehmütig strich sie über die Lettern, als sie sich wieder an den Kamin setzte und die Geschichte zu lesen begann.
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Nadir war soeben zu Erik gekommen. Seit Christine wieder beim Vicomte und Erik allein war, hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht seinen alten Freund regelmäßig zu besuchen. Und heute hatte er ihm auch ein Geschenk mitgebracht, von dem er hoffte, dass es Erik gefallen würde. Es war eines der Bücher seines Sohnes Reza, ein Märchenbuch aus dem Erik dem Jungen oft vorgelesen hatte, wenn Erik bei ihnen zu Besuch war.
Natürlich hatte Erik das Buch erkannt, wie könnte er nicht. Wann immer er Reza zu Bett hatte bringen dürfen, hatte der Junge ihm dieses Buch entgegengehalten und ihn gebeten vorzulesen. Wehmütig, nicht nur in Erinnerung an Reza, hielt er das Buch an seine Brust gedrückt.
„Sie fehlen mir.“, flüsterte er, doch Nadir hatte ihn gehört.
„Wer?“
Überrascht fuhr Erik herum und sah Nadir einen Moment lang überlegend an. Sein Freund sah wirklich alt aus, man konnte sehen, dass er viel Leid hatte ertragen müssen, aber ertrug alles, was Gott ihm auflud mit Würde. „Reza und Christine. Reza habe ich immer aus diesem Buch vorlesen dürfen und auch Christine habe ich oft die Geschichten aus dem Orient erzählt“, sagte er bedrückt und die Traurigkeit über den Verlust war deutlich zu hören. Erik fühlte nicht immer Schmerz, wenn Menschen gingen, aber der Verlust einiger ging ihm viel Näher, als Nadir ahnte.
„Du musst sie sehr geliebt haben. Du hast deine Liebe geopfert, um sie ein Leben im Licht führen zu lassen.“, vernahm Erik die bewundernde Stimme Nadirs.
Ein langer schmerzlicher und sehnsüchtiger Seufzer entwich Eriks Lippen. „Ja, sehr. So sehr, dass ich den Tag herbeisehne, an dem sie mir diese verdammte Einladung überbringt. Ich werde ihr alles Glück dieser Welt wünschen und dann hoffentlich friedlich sterben. Ein Leben ohne Christine ist sinnlos.“ Eriks Stimme wurde immer leiser und brüchiger. Tränen standen in seinen Augen.
Tröstend legte Nadir eine Hand auf Eriks knochige Schulter und versuchte ihm Trost zu geben. Er suchte nach Worten, doch er fand sie nicht. Der Perser ahnte, welchen Schmerz Erik empfand, hatte er selber doch auch zwei geliebte Menschen verloren. „Ich weiß, was du fühlst, mein Freund.“
„Blume und Vogel, zwei Geschöpfe von Gott nicht geschaffen in Liebe zu verfallen. Doch als die weiße Rose alle Zweifel vergaß und ihrem Herzen folgte, verband sie sich mit ihrer Liebe der Nachtigall. Und aus dieser verbotenen Verbindung entsprang die rote Rose, eine Rose von solcher Kraft und Schönheit, das Gott sie vor der Welt verstecken wollte.“, begann Erik eine der Geschichten zu rekapitulieren. „Warum nur musste Christine meine weiße Rose sein? Warum nur, muss ich eine Nachtigall sein, hässlich und dessen einzige Schönheit seine Stimme ist? Warum?“ Eriks Schultern bebten, die Tränen der Verzweiflung bahnten sich erbarmungslos ihren Weg über sein entstelltes Gesicht. „Ich liebe sie. Nadir, ich kann nicht anders, ich liebe Christine.“ Verzweifelt sank er auf seine Knie und weinte, wie er noch nie in seinem Leben geweint hatte, den er liebte, wie er noch nie in seinem Leben geliebt hatte.
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>>Blume und Vogel, zwei Geschöpfe von Gott nicht geschaffen in Liebe zu verfallen. Doch als die weiße Rose alle Zweifel vergaß und ihrem Herzen folgte, verband sie sich mit ihrer Liebe der Nachtigall. Und aus dieser verbotenen Verbindung entsprang die rote Rose, eine Rose von solcher Kraft und Schönheit, dass Gott sie vor der Welt verstecken wollte. << Christine beendete die Geschichte und Tränen benetzten die Spitzenrüsche ihres Kleides. In ihr hallte Eriks Stimme nach, wie er ihr diese Geschichte erzählte. Doch seine Stimme klang nicht neutral, sie war von Traurigkeit und Einsamkeit gezeichnet. Christine schloss ihre Augen und sofort sah sie Erik, vorm Kamin kniend und weinend. Oft hatte sie in den vergangen Tagen an ihren Engel, ihren Maestro, ihren Freund gedacht und er fehlte ihr. Sie vermisste es mit ihm zu singen, seiner Stimme zu lauschen, wenn er ihr Geschichten und Gedichte vortrug, ihr von seinen unzähligen Reisen erzählte. Sie vermisste seine unglaubliche Präsens, seine Ausstrahlung, seine Art sich ihr gegenüber zu verhalten, so galant, zuvorkommend aber ihr nie zu nahe tretend. Er hatte sie immer wie ein Wesen behandelt, das man nicht berühren durfte. Sie schniefte und suchte, nachdem sie einmal mit dem Handrücken über ihre Nase gefahren war, nach einem Taschentuch. Sie griff in die Rocktasche und zog ein altes Taschentuch hervor. Die erlesene Spitze war kostbar und das kleine elegant geschwungene >> M << erinnerte Christine, das es von Eriks Mutter war, der sie so ähnlich sah, von der Erik aber nie mit großer Zuneigung gesprochen hatte.
„Oh, Erik, warum hast du mich fortgeschickt? Warum hast du keine Geduld gehabt? Warum war mir nicht die Zeit gegeben, dich brauchte, bis ich meinen Mut zusammen genommen habe? Warum?“, Christine flüsterte dies zu sich selbst, bemerkte jedoch die Tränen, mit denen sie kämpfte. Sie mochte Raoul, da war sie sich sicher, aber sie war sich nicht mehr sicher, ob dieses Gefühl ausreichte um ihn zu heiraten.
Es läutete an der Tür. Christine hörte, wie eines der Hausmädchen zur Tür ging. Rasch wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und strich ihre Haare, die sie in einem Zopf gebunden trug, zurück und nahm wieder ihre Handarbeit auf. Wenig später betrat Raoul die Bibliothek und trat mit einem Strauß roter Rosen auf Christine zu und umarmte sie zärtlich. Doch Christine sah nur die tiefroten Rosen und spürte, dass ihr Leben in die falsche Richtung laufen würde.
„Ich habe die Einladungen geholt.“, teilte Raoul monoton mit und legte sie sorgfältig auf den kleinen Sekretär. Nur eine hielt er noch immer in Händen. Er sah den Umschlag missbilligend an und warf ihn dann von sich.
„Gut. Ich überbringe dann Erik seine Einladung, wie ich es versprochen habe.“, versuchte Christine in kühlem Ton zu sagen. Sie hatte mit sich zu kämpfen, denn ihre wahren Gefühle bahnten sich mehr und mehr ihren Weg an die Oberfläche, aber Raoul durfte unter keinen Umständen Verdacht schöpfen, sonst würde sie Erik nie wieder sehen.
„Soll ich mitkommen?“, fragte Raoul höflichkeitshalber nach. Ihm wäre es lieber gewesen, Christine würde gar nicht erst gehen.
Seine Verlobte schüttelte verneinend den Kopf. „Ich bringe sie ihm alleine und komme dann auch gleich wieder. Morgen muss ich immerhin früh aufstehen, schließlich wollen wir ja aufs Land fahren, um deinen Bruder zu besuchen.“, gab Christine vor.
Raoul nahm die Erklärung hin und ließ für Christine eine Kutsche rufen.
Derweil kleidete sich Christine um. Sie trug ihr Brautkleid von Erik. Die kurze Schleppe hatte sie hochgehackt und über dem Kleid trug sie eines ihrer Hauskleider. Als sie die Treppe herunterkam, legte sie sich ihren Umhang mit der Kapuze um und verabschiedete sich von Raoul.
„Bis später. Ich bin bald wieder da.“, sagte sie zum Abschied und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
* * * * *
Christine kannte den Weg, selbst in der Dunkelheit der Kellergewölbe ging sie sicher und stand schließlich am Ufer des Sees, an dem sie oft mit Erik spazieren war. Ihr Engel stand beim Boot und erwartete sie. Nach einer kleinen Begrüßung setzten sie über. Erik hatte die Einladung in ihren kleinen Händen gesehen und konnte den Blick nicht von diesem Umschlag wenden.
„Ich kann nicht.“, brach es aus Christine heraus. Sie ließ ihren Umhang achtlos zu Boden fallen und eilte zum Kamin.
Überrascht und ein wenig besorgt folgte ihr Erik. „Christine?“
Christine reagierte nicht. Sie hielt den Umschlag in Händen und streckte sie aus. Doch statt sie Erik zu überreichen, überließ sie die Karte dem Feuer.
„Christine, was tust du?“, erkundigte sich Erik verschreckt und ein wenig entsetzt.
Doch Christine drehte sich zu Erik um, streifte ihre Handschuhe ab. An ihrer rechten Hand prangte ihr Verlobungsring, jedoch war es nicht der Ring des Vicomtes, der ihren Ringfinger zierte, es war der Ring, den Erik hatte fertigen lassen. Verdutzt stand er vor seiner kleinen Rose.
Christine aber öffnete ihr Hauskleid und streifte es sich ab und ließ es zu Boden fallen, wo auch schon ihr Umhang lag. Als Erik das herrliche Brautkleid erblickte, stand er nur noch sprachlos vor ihr. „Erik. Ich liebe dich.“, hauchte sie ihm entgegen und ihre Arme schlangen sich einer Efeuranke gleich um seinen Hals. Ihre zarten Finger lösten die Schleife seiner Maske, die zwischen sie fiel. Einen Moment standen Erik und Christine nur da und sahen sich tief in die Augen, ehe Christine den Mut der weißen Rose aufbrachte und Erik zu küssen begann. Zunächst scheu und zärtlich, doch wurde sie leidenschaftlicher, verzehrender und verlangender. Ihre Tränen verbanden sich, wie ihre Lippen miteinander verschmolzen, ihre Herzen begannen im selben Takt zu schlagen. Sie wurden eins.
„Erik, lass uns fortgehen von hier. Lass uns alles hinter uns lassen und alles vergessen.“, flüsterte Christine.
Er brachte etwas Distanz zwischen sich und Christine und blickte sie einen Moment durchdringend an. „Bist du dir sicher? Ich werde dir nie so ein Leben bieten können, wie es der Vicomte bieten kann.“
Mit einem Blick, der alle Worte überflüssig machte, bedachte Christine ihren Engel und begann zu lächeln. „Ich liebe dich, Erik. So wie die weiße Rose und die Nachtigall zusammenfanden, so lass auch uns zusammen sein.“
* * * * *
Im Schutz der Nacht verließen zwei Schatten Paris. Wohin sie entschwanden vermochte niemand zu sagen. Wie in dem Märchen aus dem Orient die weiße Rose und die Nachtigall, so lebten auch Christine und Erik, in Liebe vereint, glücklich bis ans Ende ihrer Tage zusammen.
~ Ende ~