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Noel
 

Prolog


Vor fünf Jahren hatte sie die Pariser Oper verlassen, sie hatte ihren Engel der Musik verlassen und hatte Raoul geheiratet, trotz aller vorbehalte, die die aristokratische Gesellschaft und vor allem Raouls Familie ihr gegenüber hatten. Doch seit sie während ihres ersten Weihnachten als Vicomtesse de Chagny ihren Sohn verloren hatte, hatte sie jegliche Freude an diesem besinnlichen Fest verloren. Seit jenen Tagen, trug sie nur noch die einfachsten Kleider in schwarz, sie verabscheute Festivitäten und zog sich in ihre Räume zurück, die karg waren. Sie aß nur noch Brot mit Wasser und Äpfel. Sie hatte sich von einer lebensfrohen, strahlenden jungen Frau in eine blasse, emotionslose Frau verwandelt. Raoul hatte schon recht früh nach ihrer Hochzeit das klassische Leben eines jungen Aristokraten aufgenommen. Er ging seinen Geschäften nach, besuchte seinen Club und amüsierte sich mit Edelhuren oder verbrachte seine abendlichen Stunden mit einer Geliebten. Sie waren nur noch auf dem Papier verheiratet und die Comtesse de Chagny als oberste Dame der Familie setzte alles daran, für ihren jungen Schwager eine passende Frau an die Seite zu führen und sie wäre die erste, die einer Scheidung zustimmen würde.

In einen abgetragenen Mantel gehüllt ging sie durch die Stadt und eilte nach Hause. Wieder einmal hatte sie beim billigsten Bäcker ihr Brot gekauft und hatte auf dem bereits geschlossenen Markt die liegen gelassenen Äpfel mitgenommen, sie waren bereits verschrumpelt und nicht mehr die frischesten, aber sie aß sie. Christine war zu einer Asketin geworden und niemand verstand sie. Hatte sie doch allen Reichtum den man sich wünschen konnte, doch sie lebte, als wäre sie Tagelöhnerin. 

Es begann zu schneien, pünktlich zu Heilig Abend, sollte die Stadt an der Seine in einen weißen Schleier getaucht werden, doch Christine hatte keinen Blick für den weißen Flockenzauber. Sie murrte, wenn ihr Menschen den Weg versperrten. Gerade war sie auf den Boulevard Haussmann eingebogen, der Boulevard war voller Menschen.

Schneller gehen.“, fauchte sie, als eine ältliche gebrechliche Frau an, die mit einem Gehstock vor hier her ging und dazu noch einen schweren Korb auf dem Rücken trug. Christines hatte kein Mitgefühl mehr für ihre Mitmenschen, sie drängelte sich an der Frau vorbei, wodurch die Frau beinah gefallen wäre, doch aus ihrem Korb fielen Kartoffeln. Doch das scherte Christine nicht, sie blickte sich nicht einmal um und ging ihres Weges weiter, sie hörte nicht mal das Schimpfen der Frau und die Empörung der anderen Passanten.

Aus einer Kutsche heraus wurde diese Szene missbilligend beobachtet. Erik war auf dem Weg zu seinem neuen Haus, das er vor zwei Jahren hatte errichten lassen. Nachdem er einsehen musste, dass sein Leben in der Oper nicht wirklich gut war für ihn, hatte er begonnen wieder Architekt zu sein, so wie früher. Er hatte all seine Habseligkeiten schon vor einiger Zeit aus der Oper geschmuggelt und in sein Haus bringen lassen. Er versuchte nicht allzu viel von den Neuigkeiten der de Chagnys mitzubekommen, denn es tat ihm unendlich weh zu sehen, das es Christine offensichtlich nicht gut ging, doch sie ließ niemanden an sich heran. „Was ist nur aus dir geworden mein kleiner Engel.“, seufzte Erik. Er ließ den Kutscher langsamer und an Christine heranfahren. Er öffnete die Tür und zog sie mit aller Kraft in die Kutsche hinein.

Lassen Sie mich los.“, fauchte sie empört und versuchte sich aus dem festen Griff ihres „Entführers“ zu lösen.

Sein Blick war traurig und augenblicklich ließ er sie los, verschloss jedoch die Kutsche und ließ sie sich auf der Bank ihm gegenüber zu setzen. „Du hast dich sehr verändert, Liebes.“, meinte Erik ruhig und schaute sie voller Sorge an. Sie wirkte ausgemergelt, blass, ihre Haut war von einem gräulichen Schleier überzogen, ihr einst so wunderschönes Haar war stumpf geworden.

Voller Kälte blickte Christine Erik an. Man hätte meinen können, aus ihren Augen spreche Hass, doch egal was sie empfunden hätte, sie hätte es nicht ausdrücken können und da sie nichts mehr empfand, war ihr Blick leblos und kalt. „Lass mich raus.“, forderte sie und auch ihre einst so weiche Stimme war hart geworden. Erik bemerkte die Seelenlosigkeit ihrer Stimme erst jetzt und erschrak. Im selben Moment hielt die Kutsche vor Eriks Haus. Christine schaute nach draußen und erkannte die Gegend, nicht weit von hier lebte sie auch mit Raoul, oder er mit ihr? Jedenfalls lebte Erik nun offenbar in ihrer Nähe, es wäre nur ein halbstündiger Fußmarsch.

Erik wollte dem Kutscher gerade anweisen, die Dame nach Hause zu fahren, doch schon war sie ausgestiegen und eilte in die Dunkelheit hinaus.


* * *

Der Wind hatte zugenommen in den Abendstunden. Die Fensterläden klapperten unheimlich im Takt des Windes und die Äste der Bäume zeichneten unheimliche Gestalten an die weiße Wand von Christines Raum. Neben ihrem Bett war die Kerze bereits erloschen, einzig im Kamin flackerte noch eine kleine Flamme und auf dem Sims stand eine schöne Uhr, die nun Mitternacht schlug.

Ein lauter werdendes schlurfen ließ Christine aufwachen, seit sie ihren Sohn verloren hatte, hatte sie nur noch einen sehr leisen Schlaf. Sie glaubte eine Schattengestalt im schwachen Licht des Mondes wahrzunehmen. „Wer ist da?“, verlangte sie zu wissen, während sie instinktiv ein Streichholz entzündete um damit eine neue Kerze zum Brennen zu bringen. Doch sie erhielt keine Antwort. Stattdessen schien die Gestalt weiter auf sie zuzukommen. Christine fröstelte es plötzlich. „Wer ist da?“, fragte sie nochmal, nachdem das Streichholz sofort erloschen war.


Christine.“, entkam es der Kehle der Gestalt. Die Stimme klang seltsam unmenschlich. „Christine, wende dich ab von deinem Weg. Befrei dein Herz und deine Seele von der Kälte.“, befahl die Gestalt, während Christine immer noch versuchte die Kerze zu entzünden und endlich gelang es ihr. Sie wandte sich mit der Kerze der Gestalt zu und erschrak. Vor ihr stand jemand, der so aussah wie ihre Freundin aus Perrault aus Kindertagen.

„Mariette?“, ungläubig fragte Christine und erhob sich, um auf die seltsame Gestalt zuzugehen. Es war im Grunde unmöglich, das Mariette vor ihr stand, schließlich war ihre Freundin vor zehn Jahren gestorben, kurz bevor sie selbst nach Paris gegangen war.

„Ja, Christine. Und wenn du deinen Weg der Kälte nicht rasch verlässt, dann wirst du genauso Enden wie ich. Du wirst keine Ruhe finden, wirst allein und ungeliebt von dieser Welt gehen. Ändere dein Leben, ändere dich, oder du wirst verdammt sein. Für mich ist es zu spät, aber du kannst noch gerettet werden.“, ermahnte die Verstorbene ihre einstige Freundin.


Christine verstand nicht ganz. Sie hatte in den letzten Jahren Mariette immer bewundert, wie sie mit ihrem kargen Leben auskam, wie sie mit wenig Geld leben konnte. „Aber du hast so gut gelebt. Hattest immer da, was man brauchte. Nichts konnte dir etwas anhaben, du warst doch immer so stark. So will ich auch sein.“


Mariette schnaubte verächtlich. „Stark? Ich war geizig, war ohne Gefühle ohne Mitgefühl für meine Mitmenschen, für meine Familie. Mein Mann ist geflohen, weil ich ihm nichts außer Wasser, Brot und Äpfel gegönnt habe, obwohl wir genug Geld für einen bescheidenen Luxus gehabt hätten. Ich war nie stark, ich war egoistisch. Ich habe mein Herz in einen Stein verwandelt, in einen Eisblock. Mache du nicht den selben Fehler wie ich. Ich weiß du hast deinen Sohn verloren, aber du machst seine Seele nicht glücklich, indem du dich marterst und deine Mitmenschen dir egal sind. Ändere dich, hörst du!“


Christine verdrehte die Augen. „Mein Leben ist vorbei. Ich brauche nichts und niemanden.“


„Du irrst. Dein Leben hast du noch vor dir, wenn du von diesem schrecklichen Weg den du eingeschlagen hast, endlich abkommst, dann hast du noch ein wundervolles Leben vor dir.“, Mariette hielt ihre Hand in die Flamme der Kerze, sie wusste das das Feuer heiß war, doch sie spürte nichts. „Heute Nacht werden dich drei Geister aufsuchen, sie werden dich lehren, dich zu ändern. Sei also bereit auf ihr Erscheinen.“, verkündete Mariette etwas theatralisch und entschwand in das Dunkel der Nacht und mit ihr ging das letzte Feuer im Kamin.


Eilig legte Christine Holz nach, damit aus der Glut wieder ein Feuer entfacht werden konnte. Sie fror,  sie schlang sich ihren warmen Umhang um und sorgte für genug Nahrung für das Feuer. Als das Feuer wieder gemütlich vor sich hin prasselte, glitt sie unter die warme Daunendecke und schloss ihre  Augen.




Kapitel 1 - Der Geist der vergangenen Weihnacht

Der Sturm draußen war schlimmer geworden, die Äste knarrten und ächzten, als würden sie jeden Moment zusammenbrechen. Christine schlief schlecht, Alpträume plagten sie, als die Uhr eins schlug. Nebelschwaden kamen aus den Ecken und krochen auf die schlafende Frau zu, Kälte breitete sich aus und der Kamin erstarb wie von Geisterhand. Ein tiefes schmerzvolles Seufzen weckte Christine und ließ sie aufschrecken. Dunkelheit umgab sie, kein Mondlicht drang mehr ein, das Feuer war erloschen. Christine schlang ihren Umhang um die Schultern und schlüpfte in ihre Pantoffeln, als der Raum in ein silbrig weißes Licht getaucht wurde. Ihr Herz schien ihr stehen zu bleiben, zumindest fühlte es sich für einen Moment so an, als sie die kleine doch irgendwie furchteinflößende Gestalt in ihrem abgetragenen Kleid, den grauen schütteren Haaren und dem krummen Rücken sah. In dem seltsamen Licht, schien ihr von Falten zerfurchtes Gesicht wie eine Fratze auszusehen, Ähnlichkeiten mit Erik wären unleugbar gewesen.

„Ich bin der Geist der vergangenen Weihnacht und ich bin gekommen, dich mit zu nehmen.“, erklang eine raue unfreundliche Stimme und ergriff ihre Hand. Unfähig sich zu wehren stolperte Christine hinter der knochigen Gestalt her. Der Geist ging direkt auf den Kamin zu und als sie in der Asche standen, wirbelten sie herum und plötzlich fand sich Christine wieder vor einem kleinen rötlich angestrichenen Haus in Skandinavien.


Sind wir …?“, sie war unfähig ihre Frage auszuformulieren.

Ja, dein Elternhaus..“, erklärte der Geist knapp und führte sie ans Fenster. Schneeblumen zierten das kalte Glas und ließen nur wenig aus dem dahinter liegenden Raum sehen. „Ich glaube wir gehen besser rein, von drinnen ist die Sicht besser und es ist auch wärmer.“, murmelte der Geist, griff wieder nach Christine und durchschritt mit ihr einfach so die Wand.

Sie standen im einzigen Zimmer des Häuschens, aus einer Tür heraus gelangte man in einen Gang an dessen einem Ende eine kleine Nische für Notdurften war und am anderen Ende befand sich eine kleine Kochnische. Das Zimmer war durch die Feuerstelle stark verrußt, doch es hatte etwas behagliches an sich. In einer Ecke fand sich ein großes Bett, das mit schweren Vorhängen vom Raum abgetrennt wurde, daneben, nahe der Feuerstelle stand eine kleine Wiege. Christine sah sich auf einem Fell vor dem Kamin sitzen, wie sie eine einfache Puppe mit Haaren aus Wollfäden, in ein rotes Kleidchen steckte. Sie hörten ihre Mutter aus der Kochnische Weihnachtslieder singen, eine einfache doch wunderschöne Stimme. Das prasselnde Feuer erhellte den Raum nur dürftig. Schemenhaft konnte man den einzigen Schrank erkennen, er enthielt alles, was die kleine Familie besaß. In der Mitte des Zimmers stand ein kleiner Tisch, der mit einer weißlichen Decke geschmückt war, darauf stand eine Kerze, eine Kiste mit Strohsternen und die Geige des alten Daaés.  


Draußen schneite es wieder und der Wind war wieder aufgekommen und ließ die Tannen ächzen. Von draußen konnte mein ein dumpfes Stapfen vernehmen, jemand stieß mit einem Fuß gegen die Tür. Christine sprang unbeholfen auf und stolperte zur Tür, sie reckte sich nach dem Griff und zog so kräftig wie möglich daran, um sie aufzuziehen. Verschneit und mit einem Baum beladen, kam ihr Vater in den Raum. Er hatte den Baum bereits draußen in die fast zu harte Erde eines Topfe gestellt, den er nun in die freie Ecke stellte.


„So, hier ist unser Baum.“, verkündete der alte Daaé freudig und rückte den Baum zurecht. Christine tänzelte in ihrem weißen Kleid um den Baum herum. Sie konnte es kaum erwarten den Baum mit ihrer Mutter zu schmücken. Diese trat gerade in den Raum und trug ein Tablett mit zwei großen Schüsseln und drei kleinen herein und stellte es auf den Tisch ab. Eine der großen Schüsseln, nahm sie vom Tablett und betrachtete den Raum.


„Ein sehr schöner Baum, mein Lieber.“, sagte sie bewundernd und entzündete die große Kerze auf dem Tisch, wie sie es immer taten, wenn der Baum hereingetragen wurde. „Christine, nicht so wild, Liebes. Möchtest du unserem Tomte den Brei hinausstellen?“


Aufgeregt wirbelte das kleine Mädchen herum und mit leuchtenden Augen kam sie brav auf ihre Mutter zu. „Oh ja, das will ich gerne tun.“, verkündete sie strahlend und nahm die schwere Schüssel mit dem warmen Milchbrei entgegen. Ihre Mutter öffnete ihr die Tür und die kleine Christine stellte die Schüssel auf den kleinen Schemel der seit ein paar Tagen vor der Tür stand. „Für dich lieber Tomte und frohe Weihnachten dir.“ rief sie in die Dunkelheit hinaus.


Der Geist der vergangenen Weihnacht betrachtete die große Christine, die scheinbar mit ihrer Fassung rang. Tränen standen ihr in den Augen, das konnte sie nicht leugnen, doch sie versuchte es. „Es ist nur ein Tag, der einen verblendet und die Wirklichkeit ignorieren lässt und das ist nicht gut. Mit Tagträumereien kommt man nicht durch das Leben.“, meinte sie kühl und wollte sich von der Szene abwenden, als sie jedoch hörte, wie ihr Vater eine Weihnachtsweise zu spielen begann, konnte sie die Tränen nicht länger zurückhalten. Ihr Blick blieb auf ihren Eltern haften, ihr Vater spielte Geige während ihre Mutter die Strohsterne und Strohfiguren in den Baum hing, die ihr von dem kleinen dreijährigen Mädchen gereicht worden. Nachdem endlich alle Sterne und Figuren im Baum verteilt waren, kam ein leuchtend rotes Band zu Tage. Fast schon ehrfürchtig nahm Christines Mutter das Band aus dem Körbchen und band es ihrer Tochter um die Taille. 


So mein Kind, nun können wir das Festessen beginnen lassen.“, erklärte sie liebevoll und küsste ihren kleinen Engel.

Stumm rannen nun die Tränen bei Christine über ihr graues Gesicht und es wurde nicht besser, als sie nun auch noch den Duft des Julkuchens wahrnahm, der noch im Ofen gebacken hatte und den ihre Mutter rasch herausholen ging damit er nicht verbrannte.

„Komm, wir müssen weiter.“, sprach der Geist und führte Christine wieder nach draußen.


Aber...“, sie wollte widersprechen, doch sie war machtlos und als sie das Haus verlassen hatten, kam auch ihre Kälte wieder hervor, als sie sah, dass der Milchbrei eiskalt und fast wie gefroren schien. Es war somit offensichtlich, das es keinen Tomte gab und damit all dieses Weihnachtsgetue Heuchelei.

* * * 

Der Geist der vergangenen Weihnacht führte Christine immer weiter fort von der Weihnacht ihrer Kindheit, einem Fest voller Lieber und Wärme, trotz der Armut, in der sie lebten, hatte Familie Daaé den größten Reichtum der Welt: Harmonie und Liebe. „Du hast wahrlich eine beneidenswerte Kindheit gehabt, ihr ward zwar arm, aber ihr seid glücklich gewesen. Andere hatten weniger Glück als du und sie haben nicht so ein kaltes Herz bekommen, wie du es jetzt mit dir trägst.“, meinte der Geist, doch Christine ignorierte ihn, sie versuchte es zumindest.


Eine Nebelbank tat sich vor ihnen aus und eilig schwebte der Geist hindurch, während Christine hinterher stolperte. „Kannst du nicht wenigstens langsamer gehen.“, verlangte Christine empört.


„Sonst rennst du auch förmlich durch dein Leben, also kannst du das jetzt auch.“, entgegnete der Geist der vergangenen Weihnacht und nahm den kalten rauen Ton an, den Christine für gewöhnlich an den Tag legte. Der Geist zerrte Christine weiter und langsam wurde die Nebelbank lichter, bis sich vor ihnen ein kleines efeuberanktes Häuschen mit einem großen Baum daneben präsentierte.  Der Geist blieb stehen und öffnete die Gartentür. Durch das Fenster drang ein schwaches Licht hinaus, doch es lag ungewöhnlich ruhig da, als wäre es unbewohnt. Christine stand vor dem Fenster und schaute in das elegante Wohnzimmer, konnte jedoch niemanden erkennen. Vor dem Kamin stand ein großer Sessel, ein Baum fehlte.


„Lass uns rein gehen, dann siehst du besser.“, vernahm sie die Stimme des Geistes und wenig später standen sie im Flur. In der Küche zu ihrer rechten hörte sie jemanden hantieren und lugte zaghaft hinein. Augenblicklich schrak sie zurück. Sie kannte diese Frau. Sie hatte sie nie persönlich kennengelernt, doch auf einer vergilbten Photographie hatte sie die Frau gesehen und in Wirklichkeit sah sie ihr wirklich sehr ähnlich. Sie hatte es getan, musste Christine feststellen, denn als sie zurückgeschreckt war, hatte sie einen Blick in den Spiegel geworfen und sich darin gesehen und sich nochmal erschreckt, denn erst jetzt realisierte sie, wie aschfahl und alt sie geworden war. 


„Erik.“, flüsterte Christine leise und betrat das Wohnzimmer. Sie war sich sicher, dass dort ein Klavier stehen würde und in der tat, stand in einer Ecke das Raumes ein wunderschöner Flügel, doch Erik war nirgends zu sehen. „Wo ist er?“, fragte sie den Geist.


„Ich weiß es nicht, ich habe wohl die Macht, dich in die Vergangenheit zu bringen, doch ich kann dir nicht sagen, was du sehen wirst oder was geschehen ist, das herauszufinden liegt allein bei dir.“, meinte der Geist und schaute sich im Raum um. „Wenig weihnachtlich.“


Im Raum stand zwar eine Kerze mit Zweigen und im Kamin brannte der Weihnachtscheit, doch von einem Baum war nichts zu sehen, dafür roch es noch etwas verkohlt. Offenbar hatte es einen gegeben, denn die Nadeln lagen noch auf dem Boden und ein beschädigter Engel fand sich auf dem Flügel, doch von dem Baum war nichts zu sehen.


Christine ging in die Küche zurück, wo Eriks Mutter mit kochen beschäftigt war, im Flur lag bereits eine feine Decke aus Damast mit Servietten bereit. Scheinbar erwartete man zum Weihnachtsessen, welches in der Küche bereitet wurde, einen Gast, denn es lagen vier Servietten bereit. „Und glaube ja nicht, dass du heute zum Abendessen runterkommen darfst.“, rief Madeleine gebieterisch nach oben und legte das frisch polierte Silber für drei Personen. „Wieso bin ich nur mit diesem Etwas bestraft.“, murrte die junge Frau vor sich hin und übergoss die Entenbrust nochmals mit Rotweinsauce. Christine wandte sich ab, als sie Eriks Mutter derart reden hörte. Langsam verstand sie Erik, das er nie von seiner Mutter hatte reden wollen, das er so distanziert geantwortet hatte, als er ihr damals eines ihrer Taschentücher gereicht hatte. Sie ging schließlich nach oben, es war wie eine unsichtbare Macht, die ihre Füße die Treppe hinaufführte und dann nochmals, bis sie vor einer Tür im Dachgeschoss stand. 


DieTür war angelehnt, doch der Raum dahinter war in Dunkelheit getränkt. Das wenige schwache Licht, das hineindrang ließ kaum etwas erkennen. Der Geist jedoch sorgte mit einem silbrigen Licht, das Christine sehen konnte, was in dem Raum war. An einer Wand stand ein Eisenbett mit einfachem Bettzeug, darüber eine Wolldecke. Gegenüber der Tür war ein Regal mit vielen Bastelarbeiten unterschiedlichster Art. Ein Kleiderschrank fand sich direkt neben der Tür und gegenüber dem Bett war ein Schreibtisch auf dem eine Kerze fast erloschen stand, darauf lag eine kleine weiße Maske. Fast ehrfürchtig ging Christine auf den Schreibtisch zu und berührte die kühle Maske. Tränen kamen in ihr auf, als sie an die vielen schönen Stunden mit ihrem Engel der Musik dachte und an ihren Sohn den sie verloren hatte. „Erik.“, flüsterte sie und drehte sich zur Tür um und da erblickte sie ihn.


Der kleine Erik saß auf dem kalten Boden, denn einen Teppich suchte man in seiner Kammer vergeblich, und drehte einen aufwendig gestalteten Stern aus glänzendem Metall in seinen Händen. Er summte eine Weihnachtsmelodie, doch er wirkte nicht fröhlich, nicht glücklich. Tränen rannen auch ihm über sein deformiertes Gesicht. „Ich wollte doch nur glitzernde strahlende Feuersterne in den Baum hängen. Ich konnte doch nicht wissen, dass der dumme Baum so schnell Feuer fängt.“, murmelte Erik vor sich hin mit tränenerstickter Stimme. „Ich wollte Maman doch nur eine Freude machen.“ Er wischte sich mit dem Ärmel über sein Gesicht und wischte die Tränen fort, holte aus einer Kiste die neben ihm stand, ein Stäbchen heraus und zündete es an. Auf einmal sprühten Funken daraus hervor und in der Tat sah es aus wie ein glühender funkelnder Stern, der jedoch schon bald erlosch. Die Kerze erlosch ebenfalls. Nun war der Raum gänzlich in Schwarz getaucht, doch Erik erhob sich nicht eine neue Kerze anzumachen. Er blieb auf dem Boden sitzen und schluchzte vor sich hin. Auch wenn Christine Erik nicht sehen konnte, sie konnte seine kullernden Tränen hören und ging tröstend zu ihm, gerade wollte sie sich zum ihm niederknien und einen Arm um sie legen, als der Geist nach ihr griff und sie rüde aus dem Zimmer zerrte. 


„Was soll....“, war das einzige was sie herausbringen konnte vor Schreck. An der Treppe kam der Geist zu stehen, Christine jedoch nicht, sie stürzte hinab. Einen Moment lang blieb sie liegen und hatte, wie es ihr vorkam, die Besinnung verloren. Langsam nur öffnete sie ihre Augen und versuchte sich vom Boden zu erheben. Es war dunkel um sie herum und sie brauchte eine Weile, ehe sie sich an das silbrige Licht des Mondes gewöhnt hatte, das durch das große Fenster in ihren Raum fiel. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie in ihrem Zimmer in Raouls Haus lag.




Kapitel 2 - Der Geist der gegenwärtigen Weihnacht

Rasch stand Christine nun auf, klopfte ihr Nachthemd ab und schlang ihren Wollumhang enger um sich herum. Das Feuer war noch gut am brennen, dennoch legte sie nochmals ein paar Holzscheite nach. Die Uhr auf dem Kaminsims zeigte eine halbe Stunde nach ein Uhr. 

„Seltsamer Traum.“, murmelte sie vor sich hin und entzündete eine Kerze auf ihrem Schreibtisch. Einen Moment lang überlegte sie, doch dann nahm sie den Schlüssel, der in einer kleinen Vase versteckt war, und schloss eines der Fächer auf. Wie eine Reliquie nahm sie vorsichtig das Kästchen heraus, das sich in dem Fach befand. Ein aus poliertem Ebenholz mit Goldeinlegearbeit gefertigtes Kästchen stand vor und sie atmete tief durch bevor sie zaghaft den Deckel hob. In dem Kästchen fand sich ein alter Diamantring, sie hatte ihn an Madeleines Finger gesehen als sie von ihr geträumt hatte. Erik hatte ihr den Ring geschenkt gehabt, als er um ihre Hand angehalten hatte. Eine Haarlocke von ihm mit dem Seidenband zusammengebunden, welches sie bei einer privaten Probe für Gounods Faust, von Erik ins Haar gebunden bekommen hatte. Ein Handschuh von Erik und ein Liebesbrief von ihm, den er ihr zugesteckt hatte.


Erik.“, flüsterte sie in den Raum hinein und erinnerte sich an ihre erste Begegnung mit ihm seit fünf Jahren. „Wenn du wüsstest, was mich so verändern ließ, du würdest mich verstehen.“, wisperte sie und kämpfte die aufkommenden Tränen nieder. Sie starrte auf den Ring, den sie seit ihrem großen Verlust nicht mehr betrachtet hatte. 

Die Minuten vergingen, der Mond draußen zog sich zu, der Wind flaute auf und das Kaminfeuer begann, wie die Kerze unruhig zu flackern. Christine blickte auf als die Uhr zwei schlug. Es begann im Kamin zu rußen, als wären die Schornsteinfeger mit der Reinigung beschäftigt, doch um diese Zeit war dies ja unmöglich. Verwundert ging sie zum Kamin, als eine schwarze Wolke herunterkam und dann hörte sie neben ihrem eigenen Husten, das einer weiteren Person. Sie versuchte durch die sich legende Rußwolke zu blicken und entdeckte nur eine junge Frau, bildschön und lieblich anzusehen. Sie trug ihr lockiges Haar offen und ihr Kleid glich einer altgriechischen Tunika, die ihre Figur umschmeichelte. Obwohl sie aus einer schmutzigen Wolke schritt, war sie und auch Christine keineswegs rußig. 

Wie...? Wer...?“, sprachlos empört verlangte Christine sofort eine Antwort. Eben noch in liebevollen Gedanken bei Erik, war sie nun wieder die emotionslose Frau.

Der Geist der gegenwärtigen Weihnacht ließ sich von Christine nicht beeindrucken. „Welch liebenswürdige Begrüßung, meine Liebe.“, entgegnete sie und merkte sofort, das Christine ihr jeden Moment wieder ins Wort fallen. „Und wenn ich mich vorstellen darf...“, setzte sie an, knickste höflich, lächelte dabei und sprach weiter: „... ich bin der Geist der gegenwärtigen Weihnacht.“

Der Geist schlenderte neugierig durch das karge Zimmer, blieb beim Schreibtisch stehen und betrachtete lächelnd Christines Schatzkästchen. Ihre guten Manieren ließen den Brief respektvoll liegen, doch bei der Haarlocke konnte sie sich nicht zurückhalten. Behutsam nahm sie die Locke auf und ihre Macht erlaubte ihr, zu spüren, was er damals und heute empfand und sie konnte nur Lächeln. Doch ihr Lächeln trübte sich rasch ein, als sie sich wieder der Vicomtesse widmete und ihr eiskaltes Herz spürte. „Nun, dann wollen wir mal einen kleinen Ausflug unternehmen und schauen, wie Weihnachten dieses Jahr sein wird.“, und mit diesen Worten nahm sie Christine bei der Hand und führte sie in den blauen Salon hinunter und durch einen Lichtstrahl betraten sie den Raum.


Raoul saß mit seiner Schwägerin beisammen, die ihm einige Photographien junger gut aussehender und vermögender Töchter aus gutem Hause vorlegte. Sie tat all die Vorzüge der jungen Damen kund, und betonte immer wieder, wie viel besser jene oder eine andere wäre als die eiskalte Sängerin.

„Sieh es ein lieber Schwager, du hättest sie dir besser nur als Geliebte gehalten, statt sie zu heiraten. Sie ist unserem Leben nicht gewachsen, wie du siehst.“, meinte Antoinette de Chagny.


Raoul starrte in die Flammen des Kamins und nippte an seinem Cognac. „Vielleicht, aber sie war nicht immer so, wie jetzt. Sie hat sich so verändert.“, entgegnete er und besann sich der schönen Stunden mit Christine. Er hatte soviel riskiert für sie, fast sein Leben geopfert und sie nun einfach austauschen viel ihm schon schwer.


Wird sie mit zum Weihnachtsessen im Elysée mitkommen?“

Raoul blickte auf. „Selbstverständlich nicht. Es wäre gegen ihre Sparsamkeit so opulent zu essen und außerdem ist sie für derartige Gesellschaften nicht gesellschaftsfähig genug. Dafür fehlt ihr einfach die nötige Etikette.“ Er hatte Christine nie mitgenommen zu derartigen Veranstaltungen, selbst zu guten Zeiten nicht. Wenn Freunde eingeladen hatten war das etwas anderes, zu deren Gesellschaften hatte er sie mitnehmen können, da war sie vorzeigbar genug für. Aber das Weihnachtsessen im Elysée war etwas anderes, es wurde über deficile Themen gesprochen, durchaus auch politisiert und da konnte sie natürlich nicht mitreden. „Als Frau hat sie ja ohnehin keine Ahnung von Politik, aber die Peinlichkeit, dass sie etwas peinliches von sich gibt, möchte ich mir ersparen. Hübsch anzusehen war sie ja einmal, aber nun ist sie wirklich nur noch unerträglich.“

Der Geist wandte sich an Christine, die Raouls Worte scheinbar gar nicht wahrnahm. „Ich glaube wir kehren hierher später noch einmal zurück.“, meinte sie, griff nach Christine und führte sie durch den Kamin hindurch zu ihrer nächsten Weihnachtsfeier.


* * *

Der Raum in dem sie nun standen war kärglich. Die Wände waren grünlich und es stank erbärmlich nach Erbrochenem, Krankheit und Exkrementen. Auf dem Tisch, um den zehn Stühle standen, lag keine Decke mehr, die Vorhänge vor den Fenstern glichen mehr Fetzen als einer Gardine. Das Feuer in der Herdstelle prasselte, es musste gerade erst nachgelegt worden sein, doch es war keine Menschenseele zu sehen. In einer dunklen Ecke, stand eine breite Liege aus Holzbrettern und darauf Säcke mit Stroh, worüber nur dürftig Tücher lagen, die schon ziemlich dreckig waren. Kissen und Decken lagen darauf und ein besonders hoher Berg aus dem es hustete. Offenbar war doch jemand zu Hause. Christine ging näher auf den hustenden Berg zu und entdeckte eine alte gebrechliche Frau, die trotz der dicken Decke fror. Die Decke war gefüllt mit Lumpen und konnte kaum wärmen, zudem waren sie klamm wie alles hier. Die Feuchtigkeit war schon hoch in den Wänden, kein Wunder, das Krankheiten hier ein leichtes hatten.

„Was fehlt ihr?“, fragte Christine tonlos.


Der Geist wandte sich um, hatte er doch eben in den Topf auf dem Schrank gesehen, ein Eintopf mit Kartoffeln und Rüben. „Geld. Die Armut hier verhindert ein menschenwürdiges Leben. Ihre Tochter ist vor zehn Jahren ist ihre einzige Tochter gestorben und ihr Schwiegersohn hat sie daraufhin aus dem gemeinsamen Haus hinausgeworfen. Mit ihrem einzigen Sohn ist sie schließlich nach Paris gegangen. Er hat geheiratet, hat sechs Kinder und eine Frau zu versorgen und natürlich auch seine Mutter. Sie holt einmal in der Woche vom Wochenmarkt Gemüse, Kartoffeln und Rüben und ab und an Möhren, je nachdem wie das Geld reicht. Es ist zu wenig um zu leben und zu viel zum sterben. Aber selbst sie hat einen Sinn für Weihnachten.“, meinte der Geist und wies auf einen nadelnden Weihnachtsbaum, der liebevoll mit Strohsternen und Figuren, die die Familie offenbar selbst gebastelt hatte, geschmückt. Den Baum hatte man kaum sehen können, denn es brannte nur noch eine kleine Kerze, die am anderen Ende des Raumes stand.

„Sie kommt mir irgendwie bekannt vor.“, murmelte Christine nachdenklich vor sich hin.


Ein schnaubendes Geräusch entfloh dem Geist. „Natürlich kennst du sie. Erst heute hast du sie beinah umgerannt und früher warst du immer so höflich zu ihr gewesen. Vor dir liegt nämlich Madame Valoir, die Mutter deiner Freundin Mariette.

Erschrocken wich Christine zurück. Sie erinnerte sich gut an Mariettes Mutter, schließlich kochte sie ihnen immer heiße Schokolade in den kalten Monaten. Bis zum Tod ihres Mannes vor fünfzehn Jahren hatte es den Valoirs an kaum etwas gemangelt. Sie hatten ein gutes auskommen gehabt, ein kleines Häuschen und hatten Mariette sogar eine bescheidene Mitgift mitgebe können., damit ihre Tochter eine gute Partie machen konnte, was sie auch getan hatte. „Kann man ihr irgendwie helfen? Sie war immer eine so gute Frau gewesen.“


Ich bin erstaunt. Du zeigst Mitgefühl. Ich bin wirklich überrascht.“, meinte der Geist und betrachtete Christine von der Seite.

Sie hat es nicht verdient so zu leben.“, meinte Christine erneut und konnte die Träne, die sich hochgekämpft hatte, nicht mehr zurückhalten. 

Noch kann die Familie gerettet werden, es liegt an dir. Wenn du dich endlich von deinem Selbstmitleid, deiner Gefühlskälte trennst und die richtige Entscheidung triffst, dann besteht durchaus Hoffnung für die Familie. Ihr Sohn arbeitet schwer als Gerber, seine Frau ist Spinnerin und die Kinder betteln, damit sie genug für sich alle haben, dabei hätten die Kinder genug Talente die, wenn sie gefördert werden könnten, sie zu einem besseren Verdienst führen würden. Aber wir müssen weiter, Christine, wir haben noch zwei Weihnachtsfeste vor uns.“, redete der Geist auf die junge Frau ein und führte sie zur Tür, die gerade aufging. Meurice kam herein, über der Schulter ein Fellstück, das er aus der Gerberei hatte mitnehmen dürfen, da es wegen schlechter Qualität unverkäuflich war. Und herein kamen auch die Kinder als Christine mit dem Geist durch die Familie hindurch zu ihrem nächsten Weihnachtsfest gelangten.

* * *

Ein verwunschener Garten unter Schnee, so kam Christine die neue Umgebung vor. Ihr war dieses Anwesen noch nie aufgefallen, für gewöhnlich waren die Gärten der herrschaftliche Anwesen gepflegt und gestutzt, doch dieser durfte wachsen, wie die Natur es wollte. Doch Christine kannte das Anwesen, denn erst am Mittag hatte sie davor gehalten. Sie stapfte nun hinter dem schwebenden Geist in seinem schneedurchwirkten Kleid hinterher und erklomm die Treppe, die in den Garten hinabführte und auf eine große Terrasse führte. 

„Ich glaub das ist das Anwesen der alten Maillebois'“, überlegte sie laut. Sie hatte die beiden lange nicht gesehen, ein nettes ältliches Ehepaar, das seine beiden Söhne im letzten Krieg verloren hatte. Madame de Maillebois hatte sie immer für ihren Esprit bewundert, mit welcher Leichtigkeit sie dieses Leben voller Oberflächlichkeit mit Sinn zu füllen wusste. 


„Die de Maillebois' sind schon seit zwei Jahren tot, du warst nicht einmal zu ihrer Beerdigung. Dabei hatte die Dame dich wirklich gern, kam sie doch wie du aus einfachen Verhältnissen und hatte es am Anfang auch nicht leicht gehabt. Sie wollte dir helfen, als du deinen Sohn verloren hast, aber du hast sie abgewiesen und damit hast du dieses Leben im Grunde aufgehört zu leben.“


„Sie ist tot.“, traurig und erschrocken zu gleich erinnerte sie sich. Wage erschien die Todesanzeige in ihrer Erinnerung und Raouls eindringlichen Worte, dass der gute Ton verlange, dass sie mit zur Beerdigung gehe. Doch sie hatte sich geweigert und sich in ihr Zimmer eingeschlossen. „Und wer lebt nun in diesem Anwesen?“


Du wirst es sehen.“, meinte der Geist schmunzelnd, als sie vor den Fenstern standen, die noch völlig im Dunkeln lagen.

Christine wurde kalt und sie wollte schon fragen, ob sie nicht einfach hineingehen könnten, wie sie es bisher auch getan hatten. Doch da erschien ein warmes Leuchten und der Raum erhellte sich in warmen Licht vieler Kerzen. Der Hausbewohner hatte noch immer den Rücken zu den beiden Gestalten am Fenster gewandt, doch als er sich umdrehte war Christine überrascht. „Erik.“, brachte sie sanft hervor.

Nun können wir eintreten.“, meinte der Geist. Hier schlug ihnen kein Duft von Tanne oder Leckereien entgegen. Es war gemütlich eingerichtet, Erik hatte Geschmack, erlesenen, das konnte man sehen. Nicht nur sein Haus auch er war äußerst stilvoll in einem herrlichen Seidenbestickten Hausmantel gehüllt, darunter trug er sicherlich einen Frack aus feinsten Stoffen. „Wir bleiben jetzt aber noch nicht bei ihm im Salon. Erst möchte ich dir den Rest des Hauses zeigen.“

Widerwillig folgte Christine dem Geist durch das undekorierte Haus. Keine Tanne, keine Adventskränze, keine Scheite in den Kaminen. Nichts deutete darauf hin, das Weihnachten war. Überall brannten die Kamine und orientalische Windlichter beleuchteten die Räume. Im großen Festsaal stand nun Eriks riesige Orgel, die er nochmals hatte erweitern lassen und auf dem Hocker lag Bach's Weihnachtsoratorium.


Du siehst, Erik hat die Weihnachten seiner Kindheit nicht vergessen und hat die Freude an diesem Fest verloren. Doch er ignoriert es nicht, er liebt Musik und so spielt er wenigstens Weihnachtsmusik. Aber ...“ Der Geist wollte noch etwas sagen, doch es klopfte an der Eingangstür und so eilten sie zum Foyer, um zu sehen, wer Erik besuchen kam.

Jules trat ein und im Schlepptau zwei seiner Söhne und einen Baum. „Frohe Weihnachten.“, begrüßte Jules seinen Auftraggeber. „Ich weiß, Sie haben keinen Baum bestellt, Erik. Doch ich schenke Ihnen einen und eine Kiste mit Baumschmuck dazu.“, erklärte er feierlich und wies seine Söhne an, den Baum im Salon aufzustellen, die Kiste mit dem Schmuck jedoch auf den Tisch zu stellen.


Frohe Weihnachten.“, entgegnete Erik gelassen und beobachtete die beiden Jungen, die an ihm respektvoll vorbei gingen und mit ihnen ein Weihnachtsbaum. „Warum tust du mir das an?“

Jules war überrascht und suchte nach einer Antwort. „Ich dachte zu einem Leben, wie es alle führen, gehört auch ein Weihnachtsbaum.“, war seine simple Antwort am Ende.


Erik seufzte. „Nun gut.“, war alles was Erik erwiderte. „Tee?“

Jules nickte und folgte Erik in den Salon, wo ein Samowar das Teewasser auf Temperatur hielt. Jules war froh, das sich Erik dazu entschieden hatte, sein Leben in der Oper aufzugeben und wieder als Architekt zu arbeiten gedachte und noch froher war er, das Erik nun auch ein eigenes Haus, das seiner würdig war bewohnte. Die hohe Mauer würde neugierige Blicke abhalten und der verwilderte Garten war genau das, wovon Erik immer träumte: ein naturbelassenes Stückchen Erde inmitten der Zivilisation. 

Ich habe Christine gesehen.“, flüsterte Erik kaum hörbar, doch Jules hatte es gehört.

Sie ist nicht sehr beliebt bei den Damen der Gesellschaft.“

Das wäre sie so oder so nicht. Eine vom Theater ist den hochnäsigen, oberflächlichen Frauen nie gut genug für ihre Gesellschaft. Aber sie hat sich wirklich sehr verändert und ich wünschte, ich könnte ihr helfen.“, meinte Erik und blickte in den dunklen Garten hinaus.

Die Jungen hatten mühevoll den Baum aufgestellt und nippten nun an ihrem Tee, als ihr Vater versehentlich ein Gerücht kundtat, das Erik bisher noch nicht gehört hatte. „Angeblich ist sie so, seit sie ein Kind verloren hat.“


Abrupt drehte sich Erik um. „Sie hat ein Kind verloren? Die Ärmste, kein Wunder dass sie emotionslos geworden ist. Sie hatte sich bestimmt sehr auf das Kleine gefreut. Ich kann sie mir wunderbar als Mutter vorstellen.“

Nachdenklich schaute Jules zu Erik hinüber. „Erik, Sie lieben das Mädchen noch, oder?“ Eigentlich war es keine Frage, sondern ehr eine Feststellung, doch Erik nickte nur. Er sah seinen kleinen Engel, wie sie in seiner Droschke gesessen hatte und ihn angeschaut hatte, er bildete sich nun in seiner Erinnerung ein, dass sie ihn anschuldigend angesehen hatte.

Bei Christine rannen nun stumm die Tränen über ihr fahles Gesicht. „Er liebt mich.“, flüsterte sie nur für sich selbst hörbar. Am liebsten wäre sie zu ihm gegangen, hätte ihn umarmt und hätte ihm alles erzählt, doch der Geist führte sie weiter … zum letzten oder ehr zum ersten Weihnachtsfest.

* * *

Es war offensichtlich das sie im Elysée waren. Die festlichen Livreen verrieten das präsidiale Anwesen sofort. In den Salons vergnügte sich die erlesensten Gäste der besseren Gesellschaft. Man tanzte, nippte am Champagner, die Männer sprachen über Politik und die Damen über die neuesten Kreationen von Monsieur Worth. Raoul stand beim Justizminister und schien in einem wichtigen Gespräch vertieft.

„Lass uns mal hören, was dein Gatte so zu sagen hat.“, meinte der Geist verschmitzt und zerrte Christine förmlich zu ihm hinüber.


„Ich verstehe. Nun ja, eine missliche Situation in der Tat und Sie sagen, sie verweigert sich Ihnen total, Monsieur le Vicomte?“


„Ja, und nicht nur das, sie verstößt gegen jede Etikette, begrüßt nicht einmal meine Gäste in meinem Haus. Sie kleidet sich schäbig, geizt beim Essen und hat ihr Zimmer in ein spartanisches Quartier umgewandelt. Ich habe sie ja geliebt, als ich sie vor fünf Jahren geheiratet hatte, doch nun. Ich überlege mich anderweitig zu binden.“, erklärte Raoul und hoffte auf das richtige Mitleid und einer günstigen Antwort.


Der Minister nickte verständig bei jedem von Raouls Worten. „Nun, im Grunde sind es zerrüttete Verhältnisse, welche Sie mir da kundtun. Die Zivilehe kann ich Ihnen annullieren, das ist kein Problem. Ich kann Ihnen auch gern den Kardinal vorstellen, vielleicht lässt sich ja auch die kirchliche Eheschließung für nichtig erklären.“, schlug der Minister vor und führte sogleich den Vicomte zum Kardinal DeWinter hinüber, der sich gerade mit dem Präsidenten unterhielt. 

„Ich glaube seine Eminenz müssen wir uns nicht auch anhören, oder?“, meinte der Geist.


Christine war sprachlos. Raoul hatte nie nach dem Kind gefragt, er hatte nie um ihren Sohn getrauert, es war ihm gleichgültig gewesen, so hatte sie es aufgenommen. „Ihm war mein Kind doch egal, er hat mich nicht einmal getröstet in den Tagen nach meinem Verlust.“, schnaubte sie empört.


„Warum wohl.“, sinnierte der Geist wissend.


Christine schaute verlegen auf. „Ja ich weiß, aber das konnte er doch nicht wissen. Er musste doch damit rechnen, das....“


„Du brauchst dich vor mir nicht rechtfertigen du solltest nur die richtige Entscheidung treffen heute Nacht.“, meinte der Geist und führte Christine zu ihrem Bett. Unbemerkt hatte der Geist Christine wieder in ihr Zimmer gebracht. Das Fenster war aufgegangen, der Kamin erloschen und es war eiskalt im Raum. Allein stand Christine in ihrem Zimmer und überlegte, was sie nun tun sollte.




Kapitel 4 - Der Geist der zukünftigen Weihnacht

Noch immer grübelte Christine darüber nach, was sie tun sollte, während sie ihre Habseligkeiten zusammenpackte. Im Grunde schwankte sie zwischen zwei Möglichkeiten und am Ende würde sie wohl beide Optionen wählen. Gerade packte sie ihre Federbetten ein, die Uhr schlug drei Uhr, als durch das noch immer geöffnete Fenster eine kleine schwarz gewandete Gestalt herein geschwebt kam. Mittlerweile konnte sich Christine denken, wer da vor ihr stand.


Du bist sicherlich der Geist der zukünftigen Weihnacht. Aber ich brauche dich nicht, ich habe mich schon geändert.“, meinte sie begrüßend. 

Und doch muss ich dir die Zukunft zeigen, wie sie sein wird, wenn du dich nicht änderst.“, verkündete der Geist mit dunkler düsterer Stimme, ergriff sie und führte sie hinfort.

Durch Schnee stapften sie und der Nebel verschlang sie, so dicht lag er auf der Erde. Es war still, totenstill. Kein Vöglein zwitscherte und Christine war froh, von dem Geist geführt zu werden, denn alleine wäre sie schon über die Gräber gestolpert die sie umgangen waren. Endlich kamen sie an eine kleine Kapelle und betraten sie. Die Kapelle war schmucklos, einfache Holzbänke standen darinnen, Gusseiserne Kerzenleuchter mit weißen billigen Kerzen. Zwischen den beiden großen Leuchtern stand ein schmuckloser Sarg.


„Wer ist gestorben?“, erkundigte sich Christine, doch der Geist stupste sie nur an und forderte sie auf, selbst nachzusehen.
Verwirrt, ging sie nach vorne, nur ein Mensch saß in der ersten Reihe. „Die anderen Trauergäste kommen wohl noch.“, sagte sich Christine nachdenklich, als sie nach vorne ging. Als sie die erste Reihe erreicht hatte, schaute sie den Trauernden an und erblickte sie unter der Kapuze des Umhanges weißes Haar und sie erkannte eine ebenso weiße Maske. „Erik.“, flüsterte sie. Sie war erleichtert, dass es nicht seine Beerdigung war.

Der Geist war hinter sie getreten und stupste sie erneut an und da stolperte sie förmlich zu dem offenen Sarg und erschrak. 

Es war ihre Beerdigung. „Wo sind die anderen?“, fragte sie fast atemlos.


„Welche anderen? Du hast für keinen Menschen Mitgefühl gehabt, hast um niemanden außer dich selbst getrauert. Warum also sollte jemand um dich trauern. Der einzige Mensch, der dich nicht deines Erfolges oder allein deiner Schönheit wegen geliebt hat, ist er.“, meinte der Geist und deutete auf Erik. „Und ihn hast du verschmäht und hast dich für das oberflächliche entschieden.

„Nein, ich habe mich doch geändert, die künftige Weihnacht muss doch anders sein.“, schrie sie den Geist an. „Das kann nicht sein.“


„Es ist, wie es ist, als beschlossen wurde, dir die Gnade einer letzten Chance zu gewähren.“, erklärte der Geist sachlich mit düsterer Stimme. „Aber wir müssen weiter. Ich will dir noch etwas zeigen.“


„Aber was schönes.“, verlangte Christine, als sie mit festem Griff fortgeführt wurde. 


Der Geist führte Christine wieder durch hohem Schnee hindurch, doch die Umgebung war eine andere. Noch immer hörte sie keine Vögel zwitschern, doch keine Gräber erschwerten den Gang durch den Schnee, sondern der verwilderte Wald selber. Umgestürzte Bäume, herabgefallene Äste versperrten ihnen immer wieder den Weg. Ein riesiger Schneeberg lag vor einem heruntergekommen Anwesen, das früher gewiss prächtig ausgesehen haben muss. Christine erkannte das Anwesen der de Maillebois' nicht sofort, denn sie hatte es nur in gutem Zustand in Erinnerung. Nicht die große Treppe nahmen sie, sondern den ehemaligen Dienstboteneingang. Der Geist stieß eine Tür auf und führte sie in die Dunkelheit des Kellers.


„Wer lebt hier?“, erkundigte sie sich neugierig und zog ihren Wollumhang enger um sich.


„Weißt du das nicht?“, war alles, was der Geist von sich gab und öffnete eine Tür nach der anderen. Früher waren dies Dienstbotenunterkünfte, Vorratskeller und Küche gewesen, doch nun war alles anders. Hinter der ersten Tür war tatsächlich noch eine Vorratskammer. Kurz schaute Christine rein, doch dann ging sie weiter. An der Treppe in die herrschaftliche Etage, glaubte sie ein miauen zu hören.


„War da nicht eine Katze?“


„Möglich. Doch die Katze interessiert jetzt nicht.“, meinte der Geist und ging weiter.


Christine jedoch stieg vorsichtig die Treppe hinauf, doch noch ehe sie die Treppe halb hinaufgegangen war, hatte der Geist sie bereits wieder nach unten geholt. Zur gleichen Zeit, war jedoch die Tür oben aufgegangen und die Katze rannte hinunter in den Keller und folgte Christine. Auch wenn die Menschen sie nicht sehen konnten, Tiere nahmen den Geist und seinen Mitreisenden durchaus war. Ayesha war zwar alt geworden und zog das Leben im Luxus, der oben noch immer zu finden war, dem Keller vor. Schnurrend umschlich sie Christine. 

„Sie sieht uns?“


Der Geist drehte sich um und blickte auf die Katze hinab. „Offenbar, Tiere haben ein paar Sinne mehr als ihr Menschen. Erstaunlich das sie dich erkennt und mag. Aber Erik tut dies ja auch.“


„Dann sind wir bei Erik zu Hause? Warum lebt er hier unten im Keller, wenn er oben ein so wunderschönes Haus hat?“


„Nun, Erik hat anfangs zwar in den oberen Etagen gelebt, doch er wollte ein normales Leben mit dir führen. Aber Resignation trieben ihn hier nach unten. Er hat so oft in seinem Leben im Keller oder in dunklen Dachkammern gelebt, dass für ihn solch ein Leben normal ist.“ 


Sie hatten mittlerweile den Gang fast vollständig durchschritten, hatten Eriks kaltes und feuchtes Schlafzimmer mit Sarg entdeckt, sein Experimentierraum gefunden und die Entwürfe für diverse prunkvolle Anwesen gesehen. Plötzlich wurde am anderen Ende des Ganges die Tür aufgestoßen. Erik stürzte hinein. Er stolperte den Gang entlang, offenbar weinte er. Ayesha lief auf ihn zu und miaute besorgt. 


„Ayesha.“, flüsterte er. „Du bist die einzige, die mir geblieben ist, die einzige aller Wesen die ich liebe und die mich überleben wird.“ Seine Stimme klang gebrochen und er war in die Knie gegangen und dann brach er tot zusammen.


„Nein, nein, nein, nein.“, schrie Christine mit Tränen in den Augen und rannte zu Erik hinüber. Sie legte sich neben ihn, rüttelte an seinen Schultern. Er durfte doch so nicht sterben, nicht so traurig, nicht so allein. „Ich liebe dich doch, Erik.“, flüsterte sie und küsste ihn. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, er wäre nicht tot, er wäre nicht hier in diesem Keller, nochmal und nochmal küsste sie ihn.


Unter ihr war es warm und Christine öffnete freudig ihre Augen, doch erst jetzt bemerkte sie, dass sie ihr Kissen küsste und sie schon wieder in ihrem Zimmer war.




Kapitel 4 – Weihnachtstag

Christine packte schnell ihre Federbetten ein, Raoul würde deren verschwinden kaum in den Ruin treiben, nahm das einzige hübsche Kleid, das sie sich gelassen hatte, aus dem Schrank und zog es an. Es war ein Kleid bordeauxrotem Seidensamt mit ebenso roten Seidenfaille und cremefarbener Valenciennespitze es hatte nur ein kurze Schleppe, die Taille lang gestreckt, mit Stickerei wie auf dem Oberrock und Rüschen und Puffungen waren auf dem langem Rock. Es war ein Kleid das ihr Erik einmal geschenkt hatte, heute völlig aus der Mode, aber es war ein Kleid von Erik. Sie nahm ihr Schatzkästchen, steckte es in ihren großen Beutel, der einmal ein herrlicher Winterschal gewesen war und nahm ihn wie einen Korb über den Arm. Die Federbetten nahm sie, gleich einem Sack über die Schulter. Derart bepackt schlich sie aus ihrem Zimmer, nachdem sie Raoul rasch ein paar Zeilen geschrieben und ihn freigegeben hatte für eine passende Frau. 

Es war mitten in der Nacht, das Personal schlief noch selig in ihren Betten. Raoul, sein Bruder und dessen Frau feierten wohl noch im Elysée. Es bestand zwar durchaus die Gefahr, den Dreien über den Weg zu laufen, doch nichts konnte sie nun mehr abhalten, ihr neues Leben zu beginnen. Auf Zehenspitzen schlich sie in die Küche, einige Stufen der Dienstbotentreppe knarrten und jedes mal hoffte sie, dass keines der Dienstmädchen, deren Zimmer hier im Keller waren, wach werden und sie bemerken würde. 


In der großen Küche war Essen im Überfluss vorhanden. Orangen ruhten in großen Eimern, Äpfel lagerten in einem dunklen Schrank, von beidem Nahm sie ausreichend, so dass es nicht all zu sehr auffallen würde und steckte sie in die Kissen. Kalter Braten, Brot, Brötchen, Milch, Salami, Schinken, Marmeladen und ein Tütchen Schokolade, alles verstaute sie in die Kissenhüllen. Schließlich packte sie noch einige Eier ein und eilte schließlich hinaus. Oben in ihrem Zimmer schlug die Uhr vier. Sie musste sich beeilen, wollte sie nicht Gefahr laufen, der Kutsche der de Chagnys über den Weg zu laufen, es war noch Dunkel, vermutlich würde sie niemand sehen oder erkennen, dennoch wollte sie nichts riskieren und so lief sie, als wären bissige Hunde hinter ihr her, aus dem noblen Viertel davon und eilte in ärmere Gegenden.

Zunehmends wurden die Häuser schlichter, bis sie beinah erbärmlich aussahen. Christine kannte sich in dieser Gegend nicht aus, und als sie ihre Geschwindigkeit gedrosselt hatte, schlich sie umher, nicht wissend wohin sie sollte. Es war niemand auf der Straße, die Menschen schliefen in ihren kalten Zimmern oder in zugigen Nischen, es war niemand da der vertrauenswürdig genug aussah, das sie ihn hätte fragen können, also vertraute sie auf eine innere Stimme, die sie zu lenken schien, denn wie von Geisterhand geführt, trugen ihre Füße sie zu dem Haus in dem Mariettes Mutter mit ihrem Sohn und dessen Familie lebte. Mittlerweile war es halb sechs. Langsam erwachte das Leben in den schiefen und windigen Häusern, die Kirchen luden jetzt in der Vorweihnachtszeit und zu Weihnachten zum Essen ein, schon zum Frühstück konnte man seinen Magen füllen und kleine Häppchen mit nach Hause nehmen, doch man musste früh aufstehen, um einen Platz in der feierlichen Armenspeisung zu erhalten. Auch Mariettes Bruder und dessen Familie wollten heute zur Kirchenspeisung und waren daher schon auf, denn hinter der Tür konnte Christine die trappelnden Füßchen der Kinder hören.

Sie atmete nochmals durch und klopfte dann zaghaft an der Tür. Ein kleines Mädchen öffnete die Tür und schaute ängstlich die Frau vor der Tür an. „Ja?“


Darf ich reinkommen. Ich bin Christine Daaé, eine Freundin von deiner Tante.“, stellte sich Christine vor und wurde freundlich hereingebeten. Die Familie war etwas beschämt über die Schlichtheit in ihrer Wohnung, doch Christine hatte keinen Blick dafür. Sie ging zu Mariettes Mutter hinüber. „Ich habe Ihnen weiche Brötchen und frische Milch mitgebracht und ein wenig Schokolade. Sie haben Mariette und mir jeden kalten Wintertag heiße Schokolade bereitet.“, erzählte Christine mit tränenerstickter Stimme. Sie öffnete die Federbetten und alles kam hervor. Fleisch, Brot und Brötchen, Orangen und Nüsse und Äpfel. Schokolade und Milch und ein wenig Geld für Holz. „Und die Federbetten können Sie auch behalten, ich benötige sie nicht mehr und bei Ihnen sind sie nötiger.“, meinte sie leise und begann das harte strohgefüllte Kissen gegen das weiche frisch gewaschene Federkissen auszutauschen.

Die Familie stand sprachlos am Bett. Es dauerte eine Weile, bis Meurice seine Stimme und Worte fand. „Aber Christine, wieso? Woher?“


Ihr würdet mir nicht glauben, würde ich euch sagen, das mir ein Geist von eurer Not erzählte. Also versuche ich es euch besser nicht zu erklären. Ich hoffe nur, das ich euch damit ein wenig helfen kann. Ich kann leider nicht länger bleiben, ich muss noch jemanden besuchen. Aber ich werde wiederkommen. Ich verspreche es. Und ich wünsche euch ein gesegnetes Weihnachtsfest“, verabschiedete sich Christine von ihnen und eilte zurück in die edleren Viertel von Paris. 

Raoul war mit seinem Bruder und dessen Frau um halb sieben wieder auf dem Weg nach Hause, als sie an Christine in ihrem altmodischem Kleid vorbeifuhren. Antoinettes durchdringende Stimme konnte Christine sofort erkennen, als sich diese abfällig über die ärmliche Erscheinung Christines lustig machte. „Wie kann man nur so unmodisch sein und seinen Körper derart präsentieren, wie unschicklich. Nichteinmal meiner Zofe würde ich gestatten derart gekleidet das Haus zu verlassen.“ Raoul blickte hinaus. Ihm war alles egal, er hatte sich mit der jungen Dame aus dem Hause de Cherbourg unterhalten und er fand sie ganz nett, doch er machte sich Gedanken, wie er das alles Christine beibringen sollte, ihr erklären sollte, dass sie das Haus verlassen musste. Gewiss er würde ihr genügend Geld geben, damit sie angemessen leben konnte, dennoch war es für ihn schwer, hatte er Christine doch schließlich geliebt und für sie sein Leben riskiert. Als er im Schein einer der Lampen die Frau bemerkte, über die seine Schwägerin gelästert hatte, erkannte er Christine.

Auch Christine hatte Raoul erkannt und war einen Moment erschrocken stehen geblieben, doch dann hatte sie sich ihres Entschlusses entsinnt und ihm freundlich zugenickt und er verstand und erwiderte ihren Gruß dankend und auch ein wenig schmerzlich.


Als Christine das Tor zum Anwesen der de Maillebois' öffnete, lehnte sich Raoul in seiner Kutsche zurück und murmelte nur: „Ich bin frei für die Baronesse de Cherbourg.“


Christine war überrascht, dass das Tor nicht verschlossen war, war jedoch froh über diesen Umstand. Sie folgte dem schmalen, gewiss von Jules getretenen, Weg durch das verwilderte und schneeverzauberte Grundstück. Nur ein kurzer Weg war es, ehe sich das Anwesen erhob und sie die Treppe erklomm. Wieder atmete sie tief durch, ehe sie wagte den edlen Türklopfer zu betätigen. „Ob Erik schon wach ist?“, fragte sie sich selbst und wartete geduldig, als in der Ferne eine Kirchenglocke sieben schlug. 


Es war wirklich kalt und als nach fünf Minuten noch nicht geöffnet war, versuchte sie ihr Glück am Dienstboteneingang. Wie der Geist in der Nacht, stemmte sie sich gegen die Tür, die schwerfällig aufging, doch zu ihrem Glück ging sie auf. Als sie drinnen war, verschloss sie die Tür. Der Gang lag im Dunkeln, nur am anderen Ende drang ein wenig des dämmrigen Lichtes hinein, doch es reichte kaum aus, das sich Christine umsehen konnte. Allein ihre Erinnerung konnte sie nun führen und so tastete sie sich durch den Gang. Inständig hoffte sie, das Erik nicht hier unten lebte und öffnete alle Türen. Rasch bemerkte sie, dass hinter den ersten Türen tatsächlich das Personal schlief. Erik hatte, nach gutem Zureden von Jules, einigen armen Menschen die Möglichkeit gegeben zu arbeiten und sie leisteten ihm nun schon seit einem halben Jahr treue Dienste. 

Sie wollte niemanden wecken und so suchte sie im Dunkeln nach der Treppe, doch sie kam nicht sehr weit, als plötzlich eine der Türen aufging und mit einer Kerze in der Hand trat eine ältliche strenge Dame heraus, die in Christine eine Einbrecherin vermutete.

Bleiben Sie auf der Stelle stehen!“, forderte die resolute Dame Christine auf und verschlafen stieß schließlich auch der Hausbursche hinzu und hielt Christine auf Anweisung fest. „Was haben wir denn da? Wir sind also nicht der erste Haushalt, den sie bestehlen.“, meinte sie und nahm Christine den Beutel mit all ihrer Habe ab. Sie schaute nur flüchtig hinein, entdeckte jedoch das Kästchen mit ein wenig Schmuck und Geld. 

Aber nein, ich bin keine Diebin. Das ist mein Eigentum.“, protestierte Christine lautstark und wehrte sich gegen den festen Griff.

Bring sie zu Monsieur. Er wird entscheiden wie mit ihr zu verfahren ist.“, befahl die Hauswirtschafterin und ließ Christine abführen. Sie ging vorweg und ließ Christine dennoch nicht aus den Augen, schließlich wollte sie ihre Stellung hier nicht verlieren, war es doch schwer genug eine gut bezahlte Anstellung zu finden in ihrem Alter.

Als die drei die Treppe zur Hälfte erklommen hatten, konnte Christine bereits Ayesha miauen und an der Tür kratzen hören. 


Ayesha.“, erhob sich von der anderen Seite der Tür die strenge Stimme von Erik, die noch ein wenig verschlafen klang. Er öffnete die Tür um nach Madame Lombard zu rufen, warum diese die Tür nicht geöffnet hatte, wo doch jemand geklopft hatte heute Morgen. Er konnte noch nicht erkennen, wer ihm da entgegen kam, doch Ayesha stürmte die Treppe hinunter und sprang Christine förmlich auf den Arm.

Oh, Ayesha.“, flüsterte Christine nur gerührt und vergrub ihr Gesicht an den Hals der geschmeidigen Katzendame.

Die Hauswirtschafterin war überrascht über das seltsame Verhalten der Katze, die eigentlich niemanden außer Monsieur an sich heranließ. Die drei gingen weiter und als sie in das Licht traten senkte Christine den Kopf.


Monsieur, wir haben eine Einbrecherin festgenommen.“, verkündete Madame Lombard triumphierend und stupste Christine nach vorn, während sie mit der anderen Hand Erik ihr vermeintliches Diebesgut übergab.

Christine?“, völlig überrascht über den Anblick seines geliebten Engels, ließ er den Beutel fallen. Das Kästchen darinnen zersprang scheppernd, doch das spielte jetzt keine Rolle.

Mit gesenktem Kopf blickte Christine ihn an aus ihren braunen Augen und es schien, als hätte sich ein Teil ihrer Härte aus dem Gesicht geschlichen, zumindest kam es Erik nicht mehr ganz so hart und kalt vor, wie am gestrigen Tage. Die beiden wussten nicht wie sie sich begrüßen sollten, doch schließlich hielt Christine nichts mehr auf und sie fiel Erik um den Hals. Tränenüberströmt stammelte sie unablässig Entschuldigen, die Erik kaum verstand. Er verstand nur ein, er hielt in seinen Armen ein Häufchen Elend.

Madame, bitte richten sie ein Zimmer für Christine her und lassen sie Frühstück bringen.“, ordnete Erik an und führte Christine zunächst ins Wohnzimmer, wo er rasch den Kamin neu entfachte. Er wickelte sie in eine warme Decke, während Christine noch immer Entschuldigungen stammelte. „Christine, Liebes, was hast du? Du musst dich doch bei mir nicht entschuldigen.“, versuchte Erik sie zu trösten.

Mit tränenerfüllten Augen blickte sie zu ihm auf und schniefte. „Oh doch, das muss ich. Ich war gestern nicht nett zu dir und … und … und … und...“, sie brachte es einfach nicht über die Lippen.

Erik reichte ihr galant ein Taschentuch, kniete sich zu ihr nieder und nahm sie liebevoll in den Arm. „Liebes, du musst dich nicht entschuldigen wegen gestern. Ich weiß doch gar nicht was dich so sehr verändert hat. Ich bin mir sicher, du hast einen guten Grund dafür.“ Er hauchte einen scheuen Kuss auf ihre Stirn. „Ruh dich aus, und dann kannst du mir später alles erklären, wenn du magst.“


Ich habe Raoul verlassen.“, sagte Christine, als wäre es das Normalste von der Welt. Nun war Erik überrascht, er hätte damit nicht gerechnet, schließlich waren die beiden seit fünf Jahren verheiratet, der Vicomte glänzte nicht gerade mit Affären in der Öffentlichkeit und so war er davon ausgegangen, dass die beiden eine glückliche Ehe geführt hatten. „Seit ich meinen Sohn verloren habe, ist alles zu Ende. Ich habe mich der Trauer hingegeben und habe für meine Umwelt keinen Blick mehr, kein Mitgefühl mehr gehabt.“ Immer noch rannen Tränen über Christines Gesicht. Sie sah nun noch müder aus, als zuvor.

Erschrocken schaute Erik sie an. „Du hattest einen Sohn?“ Er konnte nicht recht glauben, dass sie in guter Hoffnung gewesen war und er konnte sich noch weniger vorstellen, warum sie deswegen nicht länger bei Raoul bleiben wollte.


Mit gesenktem Blick starrte Christine in das Feuer. „Ja, ich hatte einen Sohn. Ich trug ihn bereits unter meinem Herzen noch ehe ich Raoul geheiratet hatte. Doch zwei Monate vor seiner Geburt habe ich ihn verloren.“, schluchzte sie. Ihre Schultern zitterten und sie schien jeden Moment alle Kraft zu verlieren und zusammenzubrechen.

Nun war es Erik der fassungslos zusammensackte auf seinen Knien. Er erinnerte sich der einen Nacht, die Christine mit ihm verbracht hatte. Niemals hätte er geglaubt, dass diese einzige Nacht derart weitreichende Folgen für Christine gehabt hatte. „Ich hatte keine Ahnung … wieso bist du nicht... ?“


Ich konnte nicht. Ich glaubte in dem Moment alles verloren zu haben. Ich hatte keine Ahnung, dass du noch in Paris bist. Monsieur Bernard habe ich nicht finden können und da dachte ich, du seist fortgegangen. Meine Trauer ließ mich alles vergessen und längst sucht Raouls Familie eine neue Frau für ihn und heute Nacht habe ich eingesehen, dass ich so nicht weiter leben kann und möchte. Ich weiß nicht, ob du mir verzeihen kannst, ob wir noch eine Chance haben. Aber wenn ich heute wenigstens bei dir bleiben könnte, wäre das himmlisch.“, meinte Christine und bemerkte nicht, wie Erik am Ende glücklich zu ihr schaute. Er nahm sie in den Arm und zog ihren Duft ein. „Du kannst bleiben … für immer.“

Christine blickte ihn an und war dankbar für seine Güte. Sie wollte aufstehen und sich zu um setzen, doch noch ehe sie sich auf den Boden zu ihm knien konnte, brach sie zusammen. Erik fing sie auf und trug sie, da das Gästezimmer noch nicht bereitet war in sein Schlafzimmer und bettete sie sanft und deckte sie zu. „Wenn du erwachst, beginnt ein neues Leben. Wir feiern Weihnachten und im neuen Jahr klären wir alles mit Raoul was zu klären ist.“, flüsterte er.

* * *

Christine erwachte in einer ihr fremden Umgebung. Der Kamin prasselte, schwere Samtvorhänge dunkelten den Raum ab. Sie trug noch ihr Kleid, das sie in der Nacht angezogen hatte und die Uhr auf dem Tischchen neben dem Bett schlug sechs. Sie hatte den ganzen Tag geschlafen gehabt. Leise stand sie auf, rückte Frisur und Kleid zurecht, machte das Bett und ging, nur mit Pantoffeln, die sie vor dem Bett gefunden hatte, die große Treppe hinunter. Überall brannten Kerzen vor sich hin und ein köstlicher Duft zog durch das Haus. Christine versuchte das Wohnzimmer zu finden und nach mehreren vergeblich geöffneten Türen, stand sie in dem Raum, in dem sie heute Morgen Erik alles erzählt hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, ob schon heute Morgen ein großer stattlicher Baum hier gestanden hatte, doch nun war da einer, der von Erik mit edlen Glaskugeln, Kerzen, Kristallanhängern und dem Christbaumengel aus Kindheitstagen, geschmückt wurde.


Der ist wunderschön.“, flüsterte Christine, doch nicht leise genug, den Erik hatte sie gehört und drehte sich zu ihr um.

Ich wünsche dir schöne Weihnachten, mein Engel.“, raunte er ihr zu, nachdem er zu ihr gegangen war und sie nun in Armen hielt.

Ich wünsche dir auch schöne Weihnachten, Liebster.“, es war das erste Mal, dass sie Erik mit Liebster betitelte, doch es fühlte sich gut und so richtig an. Sie war glücklich, sie war wieder sie selbst, die alte Christine, die Freude am Leben hatte, die hilfsbereit war und voller Güte.




Ende