Nebel kroch zwischen
den Gräbern des Friedhofs Père Lachaise und tauchte die
ohnehin unheimliche Umgebung, in ein Meer voller
Schatten, überall ragten, wie graue Gestalten, die
prächtigen Zugänge der Familiengruften empor und jagten
Nathalie eine Gänsehaut über den Rücken. Eigentlich ging
sie gerne auf diesen Friedhof, wo ihr Vater seine letzte
Ruhestätte, zwischen so vielen Berühmtheiten, gefunden
hatte.
Sie war inmitten dieses riesigen Meeres aus Gräbern,
zumindest dachte sie das, wer würde bei solchem Wetter
schon freiwillige den Friedhof besuchen. Unter ihren
Füßen raschelte das Laub und ab und an brachen laut
knackend Äste unter ihren Füßen entzwei. Nathalie hasste
dieses Geräusch und schaute sich jedes Mal erschrocken
um, doch sie sah nichts als die grauen Schatten der
monumentalen Gräber. Sie ging den Weg weiter und bog
schließlich in die 10. Division ein, in dem ihr Vater in
der alten Gruft ihrer Familie ruhte.
Ein großer schwarzer Schatten löste sich aus einer der
Grüfte und folgte ihr lautlos. Er hatte sie bereits
erwartet, schließlich besuchte sie, seit dem Tod ihres
Vaters, jede Woche den Friedhof und auch das trübe
Wetter am heutigen Tag hatte sie nicht abgeholten zu
kommen. Lange schon hatte er diesen Tag erwartet, an dem
er sie endlich in sein Reich holen konnte. Ihre
schmerzliche Sehnsucht nach ihm konnte er förmlich
spüren, doch heute würde diese Sehnsucht gestillt
werden.
Nathalie ging weiter durch das wirre Labyrinth alter
Gräber, als sie plötzlich ein Geräusch hinter sich
vernahm. Ängstlich schaute sie sich um, konnte jedoch
nichts erkennen, außer den immer dichter stehenden
Gräbern, deren Tore sich wie schwarze Augen von dem
grauen Stein abhoben. Noch einen Moment schaute sie sich
um, ging dann jedoch weiter, versuchte aber so
geräuschlos wie möglich zu sein. Doch sie wurde einfach
das Gefühl nicht los verfolgt zu werden.
Erik hatte es geschafft ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen,
aber noch würde er sich ihr nicht offenbaren. Doch noch
vor dem Ende dieses Tages, würde sie zu ihm kommen und
bei ihm bleiben, bis zum Ende aller Tage. Lautlos
huschte er, seine Augen nicht von ihr lassend weiter und
war endlich mit ihr auf einer Höhe. Er konnte sehen, wie
sie sich noch immer ängstlich umschaute.
Nathalie blickte zaghaft in jeden Gang und in jede
offene Grabtür um die Gewissheit zu haben, wirklich
allein zu sein. Sie war schließlich immer allein,
niemand schien von ihr Notiz zu nehmen, also wollte sie
auch hier alleine sein. Es gab nur einen Menschen, den
sie gerne um sich gehabt hätte: das Phantom der Oper.
Für ihn würde sie ihre Einsamkeit aufgeben, doch er
lebte nicht, also blieb sie allein.
Ein kalter Windzug und eine schwarze Schattengestalt
huschte zwischen zwei Gräbern entlang, als Nathalie zu
eben jenen Gräbern blickte. Sie erstarrte und ihr Herz
pochte so laut, das man es gewiss meilenweit hören
konnte. Wie gebannt schaute sie auf die Stelle, wo sie
soeben diese schwarze Gestalt gesehen hatte.
"Wer ist da?", rief sie fragend in die sich langsam
legende Dämmerung, doch sie erhielt keine Antwort. Nur
ein einsamer Kauz rief in die bald erwachende Nacht
hinein. Ängstlich, beinah panisch schaute sie sich
weiter um, und erst als sie nichts mehr sah ging sie mit
schlottrigen Knien weiter. Sie zitterte am ganzen Körper
und fragte sich wer oder was das gewesen sein mag.
Leise begann sie ein altes Gebet vor sich hin
zuflüstern, als sie in den nächsten Weg einbog. Eine
ganze Weile stand sie an der Weggabelung und schaute in
die Richtung, in die sie gehen musste, als sie plötzlich
ein leises schlurfendes Geräusch hörte.
"Wer ist da?", rief sie wieder mit vor Angst zitternder
Stimme. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und noch
wilder, wenn dies überhaupt möglich war. Als sie nach
endlos scheinenden Minuten noch immer nichts hörte,
betrat sie zaghaft den Weg, an dessen Ende ein kleiner
Pfad abzweigte und zum Grab ihres Vaters führte.
Plötzlich kreischte der Kauz auf, verließ seinen Ast
hoch oben in den Bäumen und flog direkt auf Nathalie zu.
Nathalie drehte sich zu dem Kauz herum und ihr Herz
raste noch schneller in einem beinah bedrohlichen
Rhythmus. Der Kauz geleitete dicht über ihren Kopf
hinweg, ehe er im dichten Nebel verschwand, der
mittlerweile wie eine undurchdringliche Wand wirkte.
Nathalie stützte sich an eines der Gräbern ab und
versuchte durch tiefes Einatmen ihren Herzschlag zu
normalisieren, dabei redete sie sich immer wieder ein,
dass niemand hier war. Doch ganz gelang es ihr nicht,
noch nach einer Weile pochte ihr Herz wie wild in ihrer
Brust, als wolle es herausspringen. Schließlich schlich
sie weiter, behielt dabei aber immer noch alle Gräber
und Wege im Blick.
Immer wieder glaubte sie einen schwarzen Schatten zu
sehen, der sie scheinbar begleitete. Ein unheimliches
Gefühl überkam sie, wenn sie diese düstere geräuschlose
Gestalt sah, wie diese mal neben ihr ging, dann vor ihr
auftauchte, die Seite wechselte, um dann wenig später
hinter ihr wieder den kiesigen Weg zu überqueren.
Nathalie versuchte sich zu beruhigen, indem sie an etwas
angenehmes dachte: einem Sonnenuntergang am Meer oder
einer Wiese im bunten Frühlingsblumenkleid.
Erik folgte Nathalies Schritten und löste seinen Blick
nicht mehr von ihrer zerbrechlichen Gestalt. Fast
glaubte er ihre Angst zu spüren, gerne hätte er schon
seine kalten Schwingen um sie gelegt. Doch ihre Zeit war
noch nicht gekommen. Und auf keinen Fall sollte sie
ängstlich zu ihm kommen, er würde sie von ihrer Angst
befreien und dann in seinem Bann gezogen, würde Nathalie
ihm folgen und die Ewigkeit mit ihm teilen. Schritt für
Schritt führte er sie in seine Fänge, ohne dass sie es
bemerkte. Seine dunkle Aura fesselte sie mehr und mehr
und am Ende, wenn sie glauben würde, vor Angst sterben
zu müssen, würde seine Stimme sie besänftigen und dann
würde sie sich in seine Arme flüchten und ewigen Frieden
finden.
Nathalie erreichte endlich den kleinen Pfad, der zum
Grab ihres Vaters fühlte. Hier standen nur wenige alte
Gräber, doch diese wenigen, waren schon bei Tageslicht
unheimlich und im Nebel wirkten sie schlicht
furchteinflößend.
Ein langer wehmütiger Seufzer ließ Nathalie aufhorchen
und ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken. Ihr
Atem ging schwer und panisch versuchten ihre Augen
hinter sich zu blicken und als sie sich langsam
umdrehte, baute sich eine riesige schwarze Wand hinter
ihr auf. Kaum hatte die Schattengestalt ihre volle
majestätische Größe erreicht, trat Erik einen Schritt
auf Nathalie zu, die wie von selbst einen Schritt
zurückwich. Kaum hatte sie so das erste Grab erreicht,
flammte eine Kerze auf dem kleinen Altar, der sich im
oberirdischen Grabzugang befand, auf. Panik ergriff
Nathalie und sie stolperte, von dem schwarzen Schatten
verfolgt, weiter. Mit jedem Schritt, den sie ging,
entzündete sich in einem anderen Grab eine Kerze und als
endlich das Grab ihres Vaters erreichte war ihr ganzer
Weg, vom Friedhofsportal bis zum Grab ihres Vaters von
brennenden Kerzen gesäumt und der Schatten war wie vom
Erdboden verschluckt.
Nathalie brach noch immer panisch auf dem Grab ihres
Vaters zusammen und zitterte am ganzen Körper. Die
Blumen, die sie bei sich getragen hatte, waren gebrochen
und fielen auf den kalten Boden vor dem kleinen Altar,
auf dem, ebenso wie an den Wänden cremefarbene Kerzen
sanft flackerten.
Erik spürte, dass sie endlich bereit war die Stimme des
Engels der Musik zu hören. Wieder tauchte der schwarze
Schatten auf und stellte sich vor die Stufen, die zum
Grab hinaufführten.
Nathalie spürte die Kälte und ahnte, dass der
unheilvolle Schatten wieder hinter ihr war. Sie wusste,
dass es für sie nun kein entkommen mehr gab, doch was
dann geschah, hatte sie nicht erwartet.
Ganz leise erhob sich eine himmlische Stimme und drang
an ihr Ohr. Diese Stimme klang warm, sanft und tröstend
und doch hatte sie unterschwellig ein düsteres Timbre.
Nathalie vermochte nicht zu sagen, ob diese Stimme aus
dem Himmel kam oder ob sie direkt aus den tiefen der
Hölle zu ihr drangen. Die Stimme, wo immer sie auch
herkam, reif nach ihr und obwohl sich Nathalie gegen den
Drang wehrte, der Stimme zu folgen, konnte sie nicht
verhindern, wie sie sich erhob und wie von Geisterhand
geführt auf den Schatten zu bewegte, der nun friedlich
auf sie wartete.
Der Schatten breitete seine Arme aus, während die
Melodie, welche Nathalie gefangen hielt all ihre Ängste
nahm. Sie fühlte sich geborgen und mit diesem Gefühl
begab sie sich in die Arme der Schattengestalt, die sie
sanft umarmte. Die Stimme zauberte immer schönere
Melodien für Nathalie, während sie von Erik von dem Grab
ihres Vaters fortgeführt wurde.
Er hatte sie in seine Arme geholt und nun führte er sie
in sein Reich. Die Kerzen erloschen, kaum das Nathalie
und Erik, sie passierten. Er führte Nathalie im Nebel
durch die Straßen von Paris. Erst als sie vor der Opéra
standen, dämmerte es Nathalie und sie ahnte, bei wem sie
war. Freudig folgte sie dem Phantom in den Unterbau,
hinab in sein Reich und Nathalie wurde auf alle Ewigkeit
seine Begleiterin. Jahre später fanden Bauarbeiter die
Skelette zweier Menschen, die ineinander verschlungen
den Tod gefunden hatten: Es waren die sterblichen
Überreste Eriks und Nathalies.